Totgesagt
lassen müssen. Madeline vermutete, dass dem Polizeichef genau das wohl gerade durch den Kopf ging, denn er schaute den trotzig dreinblickenden Clay misstrauisch an. Ihr kam es sogar so vor, als könne sie seine Gedanken lesen: Willst du uns helfen, weil du keine Ahnung hast, was in dem Wrack ist? Oder weißt du es, willst es aber vertuschen?
Am liebsten hätte sie laut herausgeschrien, und zwar zum x-ten Mal, dass ihr Stiefbruder nichts mit dem Verschwinden ihres Vaters zu tun hatte, ganz gleich, was diesem auch zugestoßen sein mochte.
“Lass gut sein, Clay, ich mache das schon”, knurrte Toby, allerdings ohne jede Schärfe. Ehe man ihm die Bemerkung womöglich als provokativ auslegen konnte, ließ er den Blick seiner haselnussbraunen Augen wieder zur vollgelaufenen Kiesgrube schweifen. Im Umgang mit einem wie Clay ging selbst ein Polizeichef lieber auf Nummer sicher. Mit seinen ein Meter fünfundneunzig Körpergröße und einem Lebendgewicht von gut hundertzwanzig Kilo war Clay ein wahrer Hüne von Gestalt. Was einem indes an ihm nicht geheuer vorkam, war seine Art. Er war dermaßen verschlossen, dermaßen emotional distanziert, dass so mancher ihm durchaus einen Mord zugetraut hätte.
“Los, Rex!”, drängte Chief Pontiff. “Bringen wir’s hinter uns!”
Der Angesprochene murmelte sich eine Kette ausgesprochen blumiger Kraftausdrücke in den Bart, trollte sich aber zu seinem Truck. Schon sprang die Winde wieder an, und das Wrack glitt langsam aus dem Wasser.
Madeline hielt den Atem an.
Oh Gott, jetzt ist es so weit!
“Pass auf die Taucher auf!”, brüllte Rex.
Chief Pontiff hatte sie schon aus dem Gefahrenbereich gescheucht. “Aus dem Weg, Jungs!”, schrie er. “Den Rest erledigt die Winde!”
Das Kreischen von Metall auf Fels ließ Madeline erschauern. Es war ein grauenhaftes Geräusch, fast so entsetzlich wie das dunkle, schlammige Wasser, das aus dem Wagen rann, der zu ihren Kindertagen ihren Eltern gehört hatte. Wie war der Cadillac in dieses Baggerloch geraten? Wer hatte ihn hineingelenkt? Und – die Frage verfolgte sie nun schon seit zwanzig Jahren – was war mit ihrem Vater passiert? Sollte sie nun endlich eine Antwort erhalten?
Wie vom Abschleppunternehmer vorausgeahnt, blieb das Wrack tatsächlich an einem Felsvorsprung hängen. “Hab ich’s nicht gesagt!”, beschwerte er sich und fluchte wieder wie ein Kesselflicker. Ehe er aber den Motor abstellen konnte, riss die verrostete Hinterachse aus der Verankerung; der Cadillac ruckte an und hob sich unter dem Gestöhn der bis ans Limit gespannten Drahtseile aus seinem nassen Grab.
Madelines Nägel bohrten sich noch tiefer in ihre Handballen. Der Anblick des vertrauten Gefährtes versetzte sie zurück in ihre Kindheit – gerade so, als habe sie jemand bei den Schultern hochgehoben und auf den Beifahrersitz gesetzt. Als sie fünf oder sechs war, hatte sie immer vorn neben ihrer Mutter gesessen, während sie durch die Stadt gondelte, Pfarrgemeindemitglieder ihres Mannes beehrte, Krankenbesuche machte oder Bedürftigen eine Kleinigkeit vorbeibrachte.
Damals war Madeline ihre Mutter wie ein Engel erschienen.
Mit fest zugekniffenen Augen befühlte sie ihre Stirn, bemüht, die Erinnerungen auf Distanz zu halten. Nur selten gestattete sie sich solche Gedanken an Eliza. Ihre Mutter war eine Seele von Mensch gewesen, die für die kleine Madeline das Gute schlechthin verkörperte. Andererseits war sie auch schwach und zerbrechlich gewesen, wie es ihr Vater so oft nach Elizas Selbstmord betonte. Über seine erste Frau hatte er nur wenig Positives zu sagen gehabt, und Madeline konnte es ihm nicht einmal übel nehmen. Sie selbst hatte ihrer Mutter ja nie verzeihen können.
Sie spürte, wie Clay den Arm um ihre Schultern legte, und barg das Gesicht in eine Falte seines Mantels. Ob sie dem, was nun kommen musste, wohl gewachsen war?
“Alles klar, Maddy”, murmelte er.
So gut es ging, ergab sie sich diesem warmen Gefühl der Geborgenheit. Ihren Stiefbruder warf so schnell nichts um. Insgeheim wünschte sie, sie wäre ebenso hart im Nehmen. Es wäre ihr auch lieb gewesen, Kirk hätte sich mal blicken lassen. Sie waren fünf Jahre befreundet gewesen; ein paar Wochen zuvor hatte Madeline die Beziehung beendet.
“Das war’s!” Pontiff winkte die Taucher aus dem Wasser, während der Cadillac langsam festen Boden erreichte. Als Rex diesmal die Winde stoppte, stellte er gleichzeitig den Motor des Abschleppwagens ab. Madeline spürte, wie Clay
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