Totgeschwiegen (Bellosguardo)
Selbst Anna war etwas aus ihrem Schneckenhaus herausgekommen und hatte ausgesehen, als ob sie sich wirklich ganz wohl fühlen würde.
Die Nachricht von diesem Domenik kam Isabelle wieder in den Sinn. Was Anna wohl darauf geantwortet hatte? Sie hatte eigentlich nicht damit gerechnet, Anna noch einmal an dem Abend zu sehen, nachdem Alexander ihr das Handy ins Zimmer gebracht hatte. Aber erstaunlicherweise war sie zwanzig Minuten später wieder im Wohnzimmer erschienen, hatte zuerst mit Sophia eine Weile Babyborn gespielt und sich dann wieder an den Tisch gesetzt. Es war, als ob bei Anna ein Schalter umgelegt worden wäre.
Auf einmal hatte sie sich an der Unterhaltung beteiligt. Sie hatte über Constantins Witze gelacht und sich sogar für Isabelles Geschichte interessiert. Das Mädchen war wie ausgewechselt gewesen. Hatte das an der Nachricht auf ihrem Handy gelegen? Vielleicht hatte Anna ihrem Freund, den längst überfälligen Laufpass gegeben und fühlte sich nun befreit. Sie würde sie morgen oder besser übermorgen vorsichtig mal nach ihren Silvesterplänen fragen.
Zufrieden schloss Isabelle die Augen und rückte noch ein Stück näher an ihren Mann heran.
18
Und? Hast du mit ihm schon geschlafen?
Anna rieb sich verschlafen die Augen und starrte nochmal auf die Nachricht. Träumte sie noch oder hatte Domenik das tatsächlich geschrieben? Er hatte.
Jetzt war das Maß voll. Eine Welle der Wut fuhr durch ihren Körper.
Bist du jetzt total überge schnappt? Wenn du mit mir Schlussmachen willst, dann sag es. Dann weiß ich wenigstens, woran ich bin. Mein Vater wollte mir heute den Flug umbuchen. Das hat sich ja wohl erledigt. Eins noch: Nenn mich nie wieder eine HURE.
Fast mit Gewalt drückte sie auf Senden. Sie würde sich nichts mehr von Domenik gefallen lassen. Und wie aus heiterem Himmel musste sie an Nina denken. „Sei vorsichtig, er kann echt gemein werden.“ Oh ja, da hatte Nina recht gehabt. Ob er sie auch mit Knutschflecken markiert hatte? Unwillkürlich fasste sich Anna an den Hals. Nur mit einem T-Shirt bekleidet, konnte sie es noch nicht einmal wagen, über den Flur gehen.
Sie griff nach einer Strickjacke und einem Schal. Was für ein affiger Aufzug - nur um morgens ins Badezimmer zu gelangen.
Und dann war das Badezimmer auch noch besetzt.
Anna entschloss sich, ins Wohnzimmer zu gehen. Als Kind war es immer das Schönste gewesen, am ersten Weihnachtsfeiertag morgens wieder in das Weihnachtszimmer zurückzukehren. Der Geruch nach Tannennadeln und abgebrannten Kerzen und dann die ausgepackten Geschenke unter dem Baum ...
Versonnen öffnete sie Tür zum Wohnzimmer. Die elektrischen Kerzen erleuchteten den Baum, ansonsten lag das Zimmer noch im Dunkeln.
Sie ging auf das Sofa zu und blieb abrupt stehen. Sie hatte Isabelle gar nicht bemerkt.
„Guten Morgen Anna, du bist ja auch früh auf. Komm, setz dich. Ich liebe es, morgens nach Heiligabend im Wohnzimmer zu sitzen und den Baum anzuschauen.“
„ Geht mir auch so.“ Instinktiv zog Anna den Schal enger um ihre Hals.
„Magst du auch einen Kaffee? Ich mach dir einen.“ Und schon war Isabelle in die Küche geeilt.
Hatte sie jetzt wirklich Lust auf Smalltalk mit Isabelle? Eigentlich hatte sie sich darauf gefreut, allein im Wohnzimmer sein zu dürfen. Aber Isabelle wieder abzuweisen, erschien ihr ungerecht. Also setzte sie sich aufs Sofa. Sie sah an sich herab. Ihr Schlaf T-Shirt hatte einen V-Ausschnitt und einige der Knutschflecken waren sichtbar. Rot-bläulich schimmerten sie ihr entgegen. Hoffentlich hatte Isabelle sie nicht bemerkt. Anna zog die Strickjacke enger um sich und rückte ihren Schal zurecht. Aus der Küche hörte sie das Mahlwerk der Kaffeemaschine.
Sie sah auf den Weihnachtsbaum und dachte an Domenik. Sie musste daran denken , wie er sie mit seinen smaragdgrünen Augen angesehen hatte. So intensiv und voller Liebe. Und auf einmal war ihre Wut verschwunden und nur ein Gefühl von tiefer Schwermut blieb zurück. Fühlte sich so Liebeskummer an? Sie hatte vorher noch nie einen Jungen so geliebt wie Domenik. Seit sie sich kennengelernt hatten, verbrachte sie jede freie Minute damit, an ihn zu denken. Der Gedanke an ihn tat jetzt nur noch weh.
Aber warum hatte er sie so beschimpfen müssen? Hasste er sie oder war es nur Angst gewesen, die aus ihm gesprochen hatte? Angst, sie zu verlieren? Sie war sein Ein und Alles. Das hatte er ihr am letzten Abend im Internat gesagt. Hätte sie anders auf seine Nachrichten
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