Totgeschwiegen (Bellosguardo)
Straße entlang durch die Dunkelheit. Dabei spähte sie weiterhin nach links und nach rechts in den Wald hinein. Vielleicht war sie noch viel zu weit entfernt gewesen.
Sie ließ die Scheibe herunter. Feuchte kalte Luft schlug ihr entgegen.
„Anna, Anna! Ich bin hier!“, rief sie so laut sie konnte in die Nacht hinein. Alle paar Meter hielt sie an. Wenn Anna sie tatsächlich gehört hatte und das Dickicht verlassen würde, brauchte sie sicher ein paar Minuten, um an die Straße zu gelangen.
Sie horchte in die Stille hinein. Zum Glück war ihr Audi Q5 so neu, dass er sich bei jedem Anhalten abschaltete und kein störendes Motorengeräusch verursachte. Isabelle k onzentrierte sich auf den kleinsten Laut. Immer wieder hörte sie es rascheln. Waren das die normalen Geräusche des Waldes oder war das Anna?
„Anna, Anna!“
Nichts. Sie umklammerte ihr Lenkrad und fuhr weiter im Schritt-Tempo um die nächste Kurve. Auf der linken Seite stand ein Backsteinhaus. Ein Licht brannte in einem der Zimmer. Gehörte das Haus schon zu dem Internat?
Isabelle fuhr eine große dunkle Allee entlang. Hinter der näc hsten Kurve sah sie die Umrisse eines großen alten Gutshauses. In einigem Abstand gruppierten sich weitere Häuser. Es sah aus wie ein kleines Dorf. Das kam ihr von der Webseite bekannt vor. Das musste das Internat sein. Langsam fuhr sie an den Gebäuden entlang und überlegte, wo sie klingeln konnte. Alles lag noch in Dunkelheit.
Es war jetzt bereits kurz vor sechs Uhr. Irgendjemand musste um diese Zeit doch wach sein? Sollte sie wieder zu de m ersten Haus zurückfahren? Allerdings lag es etwas abseits. Sie war sich nicht sicher, ob das Haus zur Schule gehörte. Aber bestimmt wusste dort jemand, wie sie einen Verantwortlichen der Schule erreichen konnte. Isabelle wendete den Wagen und fuhr die Allee zurück. Sie parkte vor dem Backsteinhaus und sah noch einmal auf ihr Handy. Sie hatte wieder Empfang. Aber von Anna fehlte jegliche Nachricht.
Schnell ging sie auf das Haus zu. An der Eingangstür suchte sie nach einer Klingel. Es war keine zu finden. Sie drückte die Klinke der Tür hinunter. Die Tür war nicht v erschlossen. Isabelle öffnete sie und betätigte den Lichtschalter links von ihr.
Vor ihr erstreckte sich ein langer Flur. Unzählige Haken mit Jacken hingen an der Wand direkt vor ihr. Darunter stand eine Unmenge an Schuhen. Das musste eines der Schülerhäuser sein.
Entschlossen ging sie den Flur hinunter. Das Licht, welches sie von außen gesehen hatte, war hinten rechts gewesen. An einer Reihe von Zimmertüren entlang, ging sie auf eine größere Tür zu. Diese sah wie eine separate Eingangstür aus. Wahrscheinlich wohnte hier der zuständige Lehrer. Ein Namensschild klebte neben der Tür. Jan Hoffmann. Und da war auch eine Klingel. Sie drückte auf den Knopf und wartete.
Ihre Beine waren taub, ihre Zähne klapperten. Anna konnte sich kaum noch bewegen. Sie hatte solche Angst und war gleichzeitig so unendlich müde. Einmal nur kurz die Augen zu machen ... einfach vergessen, wo sie war und warum sie hier war.
Nein, sie durfte nicht einschlafen. So würde sie nie jemand finden.
Isabelle. Sie musste längst hier sein. Mit steifen Fingern griff Anna in die Tasche ihrer Daunenjacke. Immer noch kein Empfang. Sie musste ihr Versteck verlassen und irgendwie in die Nähe der Landstraße kommen. Aber wie weit war es bis dorthin? Sie hatte keine Ahnung.
Konzentriert lauschte sie in den Wald hinein. Dort hinten - da knackte es wieder. War das wieder nur ein Tier oder versteckte sich Domenik hier irgendwo? In den letzten zwei Stunden war sie immer weiter in den Wald hineingekrochen. Von Baum zu Baum hatte sie sich geschlichen. Bis sie schließlich eine Lichtung gefunden hatte. Hier waren Massen an gefällten Baumstämmen übereinandergestapelt. Zwischen den Stämmen hielt sie sich nun seit geraumer Zeit versteckt. Von hier hatte sie wenigstens die Möglichkeit, in alle Richtungen zu sehen. Allmählich dämmerte es. Immer mehr Umrisse des Waldes konnte sie mit dem einen Auge erkennen. Das andere Auge war komplett zugeschwollen. Vorsichtig tastete sie ihr Gesicht ab. Es tat so höllisch weh, dass Anna ein Stöhnen unterdrücken musste.
Bitte Isabelle, finde mich.
Zu Isabelles Erstaunen stand ein noch recht junger, sportlich wirkender Mann, in ausgeblichenen Jeans und weißem T-Shirt, vor ihr.
Überrascht schaute er sie an.
„Kann ich ihnen helfen?“
„Ja, bitte. Ich suc he ganz dringend eine
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