Totgeschwiegen (Bellosguardo)
Schülerin – meine ähm ... Stieftochter ... Sie heißt Anna. Anna Kaufmann.“
Der Mann sah sie mit seinen blauen Augen irritiert an.
„Anna? Sie ist in meiner Mentorenschaft und außerdem mit einem meiner Schüler hier im Haus liiert. Domenik ...“
„Ja , ich weiß. Ich habe eine Nachricht von ihr erhalten, dass sie sich im Wald versteckt. Sie hat furchtbare Angst vor diesem Domenik. Er will sie wohl von hier wegbringen.“
„Wie bitte? Es ist sechs Uhr morgens.“
„Sie ist schon länger im Wald. Ich habe ihre Nachricht gegen vier Uhr erhalten und bin sofort losgefahren. Ihre Handyverbindung muss abgebrochen sein ...“ Isabelle stammelte vor sich hin.
„Kommen sie. Wir sehen nach, ob Domenik in seinem Zimmer ist.“
Schnell ging er den Gang entlang, auf eine Tür zu. Er klopfte einmal und trat dann ein. Isabelle folgte ihm.
Im Zimmer war es dunkel . Der Lehrer schaltete die Deckenbeleuchtung an.
Isabelle sah auf das Bett. Es war leer. Ihr Magen verkrampfte sich.
„Wir müssen sie suchen.“
„Ja, das müssen wir. Ich rufe sofort bei Frau Kleber an, das ist Annas Hausmutter. Sie soll nachsehen, ob das Mädchen in ihrem Zimmer ist.“
Zwanzig Minuten später stand ein Trupp von zehn b esorgt wirkenden Lehrern vor dem Backsteingebäude. In der Eingangstür hatte sich ein Pulk von verschlafenen, neugierigen Schülern gebildet. Eine wilde Diskussion, in welchem Teil des Waldes sich Anna wohl versteckt halten könnte, war zwischen den Lehrern im Gange.
„Frau Kaufmann, der Wald erstr eckt sich über etwas 200 Hektar“, erklärte ihr gerade Herr Hoffmann.
„Sollten wir nicht die Polizei einschalten?“
„Wir werden jetzt erst mal die Teile des Waldes absuchen, welche die Schüler im Sommer für ihre Aussteigerpartys benutzen. Den größten Teil des internatseigenen Grundstücks sucht normalerweise kein Schüler auf. Vielleicht ist sie instinktiv in eine bekannte Richtung gelaufen.“
„Was ist, wenn Domenik sie längst von hier weggebracht hat?“ Isabelle wurde immer nervöser. Die sollten hier nicht rumstehen und diskutieren.
„Wie soll er sie denn weggebracht haben? Soweit wir wissen, hat Domenik kein Schwarzauto.“
„Was ist denn ein Schwarzauto ?“
„Es gibt hier und da Schüler , die bringen heimlich ein Auto mit und parken es im Dorf. Aber soweit wir wissen, hat Domenik keinen Wagen hier. Der weiß ganz genau, dass er sich keine Regelverstöße erlauben darf.“
„Und wenn er den Wagen von einem anderen Schüler genommen hat?“
„Frau Kaufmann, jetzt suchen wir erst mal den Wald ab.“ Und an zwei Lehrer gewandt sagte Herr Hoffmann: „OK, Hugo und Maria: Ihr fahrt am besten direkt zur Partylichtung.“ Die beiden nickten und entfernten sich.
„ Frau Kaufmann, sie kommen mit mir und Frau Kleber. Wir fahren in die andere Richtung.“
Auf einma l stand ein verschlafen und zerzaust wirkender Junge vor ihnen.
„Paul, was ist?“ Herr Hoffmann sah den Schüler aufmerksam an.
„Herr Hoffmann, ich ... ähm ... mein Autoschlüssel ... er ist weg ...“ Verlegen sah der Junge zu Boden.
„Oh , je. Paul, wo hast du deinen Wagen abgestellt?“
„Hinterm Bäcker im Dorf. In der Seitenstraße.“
„Hol dir eine Jacke. Du kommst mit uns.“
Der Wagen war weg. Ein Gefühl aufsteigender Panik machte sich in Isabelle breit.
„Ich rufe jetzt die Polizei an.“ Isabelle zückte ihr Handy.
„Lassen sie mich das machen. Sie zittern ja am ganzen Körper.“ Beruhigend legte Herr Hoffmann eine Hand auf ihre Schulter. Er saß neben ihr auf dem Beifahrersitz ihres Autos.
„Paul , gib mir dein Kennzeichen.“ Schroff wandte sich Herr Hoffmann an den auf dem Rücksitz sitzenden Schüler.
Zögerlich stammelte dieser das Kennzeichen seines VW-Golfs vor sich hin. Durch den Rückspiegel konnte Isabelle den völlig verängstigten Paul sehen.
Ihr Handy klingelte. Sie zuckte zusammen und sah auf das Display. Es war Alexander. Was sollte sie ihm bloß sagen?
Zehn Minuten später hatten sie die Gewissheit. Pauls Wagen war fünf Kilometer entfernt von der Landstraße abgekommen und im Graben gelandet. Der Fahrer des Fahrzeuges war mit gebrochenen Rippen in ein Krankenhaus gebracht worden. Von einem Mädchen fehlte allerdings jede Spur.
Von weitem hörte sie Stimmen. Ihr Name hallte laut durch den Wald.
„Anna, Anna. Wo bist du?“
Das war die Stimme von Herrn Hoffmann. Hatte Domenik seinen Hausvater um Hilfe gebeten? Sie kauerte sich noch tiefer an den
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