Totgeschwiegen (Bellosguardo)
Holzstapel.
„Anna, Anna! Bitte komm aus deinem Versteck. Du bist in Sicherheit.“
Das war Isabelle. Fast wäre Anna aufgesprungen und hätte ihr Versteck verlassen. Was, wenn aber Domenik irgendwo ganz in der Nähe lauerte und sie vor Isabelle und Herrn Hoffmann erreichte? Sie wagte es nicht, sich zu bewegen.
Und dann, als ob Isabelle ihre Gedanken lesen konnte, hörte Anna den befreienden Satz.
„Anna, wo bist du? Du musst keine Angst haben. Domenik ist nicht hier. Wir wissen, wo er ist.“
Langsam erhob sich Anna und verließ ihr Versteck. Sie ging hinaus in die Lichtung.
„Isabelle, hier bin ich.“ Ihre Stimme war nur ein Krächzen.
33
„Wo ist Domenik?“ Anna sah Isabelle mit dem gesunden Auge an.
„Domenik hat einen Unfall gehabt. Ihm ist aber , außer ein paar gebrochenen Rippen, nichts passiert.“
„Ist er auch h ier im Krankenhaus?“ Panisch drehte Anna ihren Kopf zur Tür.
„Ja, er ist auch hier im Krankenhaus, aber seine Mutter ist bei ihm. Er kann dir nichts tun. Bitte, Anna, hab keine Angst. Ich bin ja da, ich passe auf dich auf. Dein Vater ist auch schon unterwegs hierher.“
Stöh nend ließ sich Anna in die Kissen zurücksinken.
„Anna, hör mir zu. Ich habe eben mit der Mutter von Domenik gesprochen. Sie wird ihn mit nach Hause nehmen, sobald es ihm etwas besser geht. Und dann ... Er wird nicht wieder in das Internat zurückkehren. Domenik ist krank, Anna. “
„Ich weiß. Und ich wollte doch auf ihn aufpassen, für ihn da sein.“
„Aber du hattest schon vor gestern Nacht Angst vor ihm, nicht wahr?“
„Ja, das hatte ich. Aber er hat auch etwas Schlimmes erlebt. Er kann doch nichts dafür, dass er so ist. In seinem englischen Internat hat er seine Freundin davor bewahrt, dass ein anderer Junge sie vergewaltigt ... Keiner hat ihm geglaubt ... Er musste die Schule verlassen ...“
„Anna, nein. Das stimmt nicht. Domeniks Mutter hat es mir vorhin erz ählt. Diese Freundin – Amanda – hatte panische Angst vor ihm. Der Junge, den Domenik verprügelt hat, wollte ihr nur helfen. Domenik hatte Amanda und den anderen Jungen in einem Eifersuchtswahn grün und blau geprügelt. Danach kam er in eine Klinik. Aber offensichtlich wurde er dort viel zu früh entlassen.“
„Muss er jetzt wieder zurück in diese Klinik?“
„Ja, ich denke schon.“
„Und was ist mit seinem Abitur?“
„Anna, mach dir darüber doch bitte keine Gedanken. Wichtig ist doch, dass er dir nichts mehr tun kann. Und da ist noch etwas.“ Isabelle sah Anna zögernd an. „Du musst nachher mit der Polizei sprechen. Sie brauchen deine Aussage.“
„Nein, bitte. Keine Polizei.“
„Es geht leider nicht anders.“
„Isabelle, ich kann nicht gegen ihn aussagen. Ich liebe ihn doch.“
„Schlaf jetzt, Anna. Es wird alles gut. Ich bin bei dir. Wir stehen das gemeinsam durch.“
„Sie sieht ja furchtbar aus.“ Alexanders Stimme war nur ein Flüstern.
„Ja, ich habe mich auch total erschreckt. Der Arzt hat aber gesagt, dass nichts gebrochen ist.“
„Wenn ich diesen Typen in die Finger kriege ...“ Alexander ballte seine Hände zu Fäusten.
„Alexander, nicht. Bitte, lass uns draußen reden.“ Isabelle zog ihren Mann sanft am Arm aus dem Krankenzimmer hinaus. Anna hatte ein Beruhigungsmittel bekommen und schlief endlich.
Schweigend gingen sie nebeneinander her aus dem Krankenhaus. Draußen wehte ihnen die nasskalte Märzluft entgegen. Isabelle zog ihren Schal fester um sich.
„Ich nehme sie aus dem Internat. Was ist das für eine Schule, die noch nicht mal auf ihre Schüler aufpassen kann?“, giftete Alexander.
„Ja, ich hatte auch keine Ahnung, dass die Schüler nachts nicht in ihren Betten l iegen. Irgendwie hatte ich eine komplett andere Vorstellung von dem, wie sich so ein Internatsleben abspielt. In Annas Erzählungen wirkte es auf mich eher wie eine biedere Lernanstalt.“
„Sie hat nie groß etwas erzählt. Mir wird jetzt ers t bewusst, dass ich keinen blassen Schimmer von ihrem Leben dort hatte.“
„Vielleicht hast du sie nur nie richtig danach gefragt?“
„Ach Isabelle, ich habe mich nur um mich gekümmert. Ich habe immer gedacht, alles andere würde schon laufen. Sieh nur, was ich angerichtet habe. Ich habe die Menschen, die ich liebe, im Stich gelassen.“
„Apropos. Alexander , es ist an der Zeit, dass du mir die Wahrheit über Katharina und den Unfall sagst. Und auch über deine Affäre müssen wir reden. Du sagtest, es wäre nicht dein Kind. Wessen
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