Totsein ist Talentsache (German Edition)
„Ich hab das Konzept des geschlossenen Tanzes
noch nie durchschaut. Da reiben sich zwei Menschen aneinander, die sich im
normalen Leben nicht einmal die Hand geben würden. Weil sie sich gar nicht
kennen. Oder schon zu lange“, sagt Jo, während er Anna vor sich herschiebt, und
fügt hinzu: „Wahrscheinlich rubbeln die sie nur aneinander, damit sie nicht
erfrieren.“ Dafür, dass der Saal zu Brechen voll ist, herrscht tatsächlich eine
bemerkenswerte Kälte.
In einer Ecke des Raumes ist etwas weniger los. Die beiden finden
ein freies Fleckchen nahe der Bühne. Zufrieden sieht sich Anna um: „Naja, die
Aussicht könnte bissl besser sein, aber zumindest werden wir hier nicht so
leicht entdeckt. Das Letzte, was ich jetzt brauchen kann, sind die Kollegen,
die sich wichtigmachen. Oder herausfinden, woran ich arbeite.“
Sie hat bisher niemanden von dem Buch erzählt. Nicht einmal ihrem
besten Freund, der sie dementsprechend verwirrt ansieht. „Geheimnis“, flüstert
Anna. Das ist ein Reizwort für Jo. Im Bruchteil einer Sekunde aktiviert er
seine Kulleraugen und bettelt wie ein Hündchen um ein paar aufklärende Happen.
Meist lässt sich Anna dadurch erweichen, doch heute ziert sie sich. Also hält
ihr Jo in einer dramatischen Rede vor, dass er nur ihr zuliebe einen Anzug
trägt und hier ist, obwohl er seinen schwer kranken Harlekinfrosch pflegen
müsste. Anna überlegt kurz und meint dann: „Also gut. Ich erzähl es dir. Unter
drei Bedingungen: Unser Abendessen musst du bezahlen. Du wirst das Cabrio
putzen, nachdem du es gefahren bist. Und was meinen Scharfmacher betrifft:
einmal schnuppern und aus. Und du darfst keinem von meinem Plan erzählen!“
Jo wägt die Alternativen ab und beschließt, dass eine kleine
Verschwörung allemal besser ist als ein Gratisessen. Und es gibt Schlimmeres,
als einen nagelneuen Sportwagen polieren zu müssen. Nur um den Slip tut es ihm
leid. „In Ordnung. Das waren übrigens vier Bedingungen, nicht drei.“ Anna antwortet:
„Letzteres war keine Bedingung, sondern eine Drohung. Also – sind wir uns
einig?“ Als Jo mit einem konspirativen Zwinkern nickt, erklärt sie ihm ihr
Vorhaben.
Anna hätte ihn ohnehin in Kürze und bedingungslos eingeweiht.
Schließlich ist Jo ihr bester Kumpel. Und bestimmt auch ein zuverlässiger
Mitarbeiter, wo doch sein größtes Glück darin besteht, in der schmutzigen
Wäsche anderer zu wühlen. Aber warum auf einen guten Handel verzichten, wenn
sich die Chance ergibt?
Wie erwartet ist Jo von der Idee begeistert
und sichert seine volle Unterstützung zu: „Was immer du brauchst, Süße! Bilder,
Informationen, Beweismittel … ich kann dir alles beschaffen. Das wird ein Spaß!
Ich werde …“ Anna unterbricht ihn: „Schon gut, ich weiß, dass ich auf dich
zählen kann. Aber jetzt bin ich mal kurz privat. Ich will die Zehner hören.“ Eben
hat der Moderator den Höhepunkt des Abends angekündigt: Klara Zehner, die
oberste Instanz der österreichischen Medienbranche.
Im Saal werden alle Lichter gedämpft, während einige
Scheinwerferkegel suchend auf der Bühne herumirren. Gebannt blicken die Festgäste
auf das Podium, auf dem in wenigen Augenblicken Klara Zehner einen ihrer
seltenen öffentlichen Auftritte haben wird. Als das Orchester einen Tusch
spielt und ein Regen aus silbernem Konfetti von der Decke rieselt, geht ein
aufgeregtes Raunen durch die Menge. Und dann – tut sich minutenlang nichts. Erst
erwartungsvoll, dann verwundert starren die Leute auf die seitlichen
Bühnengassen. Darum bemerken nur wenige, dass Zehner, flankiert von ihrem
persönlichen Stab, hinter dem Pult auftaucht. Im Wortsinn. Die Hebebühne hat
für den geplanten Überraschungsauftritt gesorgt, ein kleiner technischer Defekt
dafür, dass er unbemerkt geblieben ist. Energisch ermuntert vom Moderator
beginnt die Menge zu klatschen. Der Applaus schlägt in hysterische Ovationen um,
als Klara Zehner langsam ihre Hand hebt und winkt. Sie wirkt etwas steif, was
vermutlich daran liegt, dass sie in einem Ungetüm aus rotem Stoff steckt, das
sie vom Hals bis zu den Zehen einhüllt.
„Ist die so fett oder will sie sonst
irgendwas verstecken? Die muss ja Hitzewallungen bekommen.“ Anna ignoriert Jos
Kommentar und blickt gespannt auf die Bühne. Klara Zehner ist eine Ikone und
ihr großes Vorbild. Sie hat mit Fleiß und harter Arbeit ihren Weg bis an die
Spitze geschafft. Alles, was in Österreich über den Äther geht oder aus der
Druckerpresse kommt, entspringt ihrem
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