Totsein ist Talentsache (German Edition)
die Halunken ihr Heim stürmen. Die Verteidigung der
elterlichen Wohnung hält sie im Augenblick nicht für sinnvoll. Die
Kosten-Nutzen-Rechnung ginge in diesem Fall nicht ganz auf.
„Komm, Johann.“ – „Ja, schieb ihn rein.“ – „Fester!“
– „Du musst richtig stoßen, sonst geht´s nicht.“ – „Ja, es ist eng, aber wie
viel Platz braucht er schon?“
Menschen mit blühender Fantasie denken sich jetzt ihren
Teil. Annas Vorstellungskraft liegt weit über dem Durchschnitt. Sie will sich
aber gerade nichts denken, denn diese Stimme klingt noch immer sehr nach ihrer
Mutter. Und manche Dinge will man sich einfach nicht ausmalen. Vorsichtig dreht
Anna den Schlüssel um, öffnet die Tür einen Spalt und blickt ins Halbdunkel des
Vorzimmers: Ein paar Meter vor ihr stecken Sophie und der persönliche Assistent
ihres Vaters im Türrahmen der Abstellkammer. Nebeneinander. Angezogen. Und
offenbar mit einem großen, schweren Gegenstand beschäftigt. Verwundert
durchquert Anna die Diele.
„Mama? Johann? Was macht ihr da mit … Papa?!“
Erschrocken fahren Sophie Gross und Johann Schmid hoch und drehen sich zu Anna
um. „Kind … Ich dachte, du schläfst tief und fest! Ich wollte nicht, dass du
das hier … dass du ihn so siehst. Es tut mir so leid, mein kleiner Liebling!“
Händeringend läuft Sophie auf ihre Tochter zu und versucht, sie am Weitergehen
zu hindern. Ungeduldig schüttelt Anna ihre Mutter ab und steuert auf Friedrich
zu, der wie versteinert in der Abstellkammer steht: „Hat dich deine aktuelle
Schlampe vor die Tür gesetzt? Wie kannst du es wagen, hier aufzutauchen! Noch
dazu mitten in der Nacht! Und wenn du mal da bist, findest du nicht einmal mehr
in dein eigenes Schlafzimmer? Und du, Johann? Machst auch noch den Handlanger
bei diesem üblen Spiel? Hast du gar kein Ehrgefühl im Leib, du sch…“
Bestürzt bleibt Anna stehen. Sie hat ihren Vater
schon lange nicht mehr gesehen. Aber der Mensch vor ihr kann unmöglich
Friedrich Gross sein. Das Gesicht ist eingefallen und fahl, das Haar klebt matt
und farblos am Schädel. Der ehemals stattliche Mann hat mindestens 20 Kilogramm
abgenommen. Er wirkt gebrochen. Anna kommt es vor, als hätte man das Leben aus
ihrem Papa rausgesaugt. Unwillkürlich schießen ihr Tränen in die Augen. Bei
allem Zorn, den sie ihrem Vater gegenüber hegt, schmerzt sie dieser Anblick
doch ungemein.
Und dann endlich rührt sich Friedrich. Langsam macht
er einen Schritt nach vorne und will Anna am Arm berühren. Ein ekelhaftes Gurgeln
dringt aus seiner Kehle, begleitet von einem kalten Blick aus eisblauen Augen.
Erschrocken stolpert Anna zurück, dreht sich um und geht hinter ihrer Mutter in
Deckung.
„Bleib bei ihm,
Johann. Du weißt, was zu tun ist“, sagt Sophie, während sie ihre Tochter in den
Arm nimmt und in deren Schlafzimmer führt. Behutsam setzt sie Anna aufs Bett,
läuft zurück zur Wohnungstür und dreht sorgfältig den Schlüssel um. Zweimal.
„Warme Milch mit Honig wäre jetzt wahrscheinlich
vernünftiger. Aber Tee mit Rum wirkt schneller. Trink mal, und dann reden wir.
Es gibt eine Erklärung für all das hier. Ich kann dich nicht für immer vor der
Realität beschützen.“ Energisch wickelt Sophie die Daunendecke um ihre immer
noch zitternde Tochter, setzt sich neben sie und streichelt ihr über den Kopf.
Anna hat ihre Mutter noch nie so erlebt. So fürsorglich. Selbstbewusst.
Nüchtern. Dass sie wieder einmal angezogen ist, als käme sie von einer Schitour
mit dem Faschingsverein, fällt im Moment nicht weiter ins Gewicht.
Anna setzt sich langsam auf. Nur ein wenig
allerdings, da der Kopfschmerz und die straff gespannte Decke ihren
Bewegungsspielraum erheblich einschränken. Sie greift nach der Tasse und leert
das dampfende Gebräu in einem Zug. Mühsam unterdrückt sie den aufkommenden Brechreiz
und sagt: „Mama, was ist mit dem Papa los? Ist er krank? Ansteckend? Oder
schlimmer? Ist er deshalb nie zu Hause? Damit wir ihm nicht beim Sterben
zusehen müssen?“
Sophie muss sich
zusammenreißen. Es gelingt ihr. Sie spricht ruhig. Beinahe emotionslos. Als
würde die Angelegenheit sie betreffen, jedoch nicht betroffen machen: „So
ähnlich … Dein Papa ist vor Jahren sehr krank geworden. Unheilbar krank, haben
die Ärzte damals gesagt. Sie haben ihm nur mehr wenige Monate gegeben. Wir sind
verzweifelt gewesen. Und dann haben wir von einer Heilmethode erfahren, die in
Lainz angewandt wird. Man hat uns erklärt, dass er dadurch mindestens noch
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