Totsein ist Talentsache (German Edition)
ist faul in Österreich.
Zensurierte Medien, verschollene Menschen, Unheil bringende Heilmethoden –
jetzt fehlt eigentlich nur noch, dass all das auf eine sehr kranke Weise
zusammenhängt. Lachend schüttelt Bernd den Gedanken ab. Das ungute Gefühl im
Bauch hält sich dennoch hartnäckig.
„Das ist es also. Litschau. Naja, muss es auch geben. Sandgrubenweg hat Mama gesagt? Wie putzig.“ Als sie endlich vor einem
schmucken einstöckigen Haus stehen bleiben, muss Anna allerdings eingestehen,
dass die kleine Ortschaft ein ausgesprochen schönes Fleckchen Erde ist.
Idyllisch. Friedlich. Unschuldig. Nur der Herrensee, der sich vor ihnen
ausbreitet, verströmt eine mystische, fast unheimliche Atmosphäre. Als würde er
Geheimnisse in seinen schwarzen Wassern bergen, die kein Mensch je erfahren
darf. Trotz sommerlicher Hitze fröstelnd, greift Anna nach Bernds Hand. Sie hat
noch immer keine Ahnung, warum Sophie sie ausgerechnet hierher geschickt hat.
Aber was immer die beiden erwartet, es wird mehr sein als nur ein Kurzurlaub.
Anna drückt die Klingel und geht einen Schritt
zurück, als sich ein Schlurfen der Tür nähert. Ein leises Quietschen verrät
ihr, dass der Sichtschutz des Türspions zur Seite geschoben. Die darauf
folgende Stille, dass sie eingehend inspiziert wird. Also setzt Anna ihr
nettestes Lächeln auf und ruft: „Guten Tag, ich bin Anna und das ist mein
Freund Bernd. Gross. Und Fechmann.“ Sie erschrickt ein wenig, als die Tür
daraufhin mit einem Ruck aufgerissen wird. Während die Gestalt vor ihr sich
langsam aus dem Schatten des Vorraumes löst und in den Türrahmen tritt, sagt
sie: „Und Sie müssen … um Gottes willen! Was sind Sie?“
Es gibt schöne Menschen und es gibt jene, die optisch
ein wenig benachteiligt sind. Manche sind gerade gewachsen, andere müssen mit
Abzügen bei den Haltungsnoten rechnen. Das macht die Vielfalt des Daseins aus
und ist eine anerkannte Tatsache – selbst für Anna. Das Wesen, das im Türrahmen
steht, fällt jedoch in keine ihr bekannte Kategorie. Es ist nicht direkt
hässlich. Eigentlich ist es gar nicht hässlich. Aber irgendwie – verknittert.
Als wäre zu viel fleckige Haut auf zu wenig des seltsam gekrümmten Körpers
verteilt.
„Ich bin Max. Ich bin dein Opa. Ich …“ Anna
unterbricht den Mann: „Ich kenne nur eine Oper. Und die steht am Ring. Hören
Sie, meine Mutter hat uns hierher geschickt, aber ich befürchte, wir haben uns
in der Adresse geirrt. Bitte entschuldigen Sie die Störung.“ Sie dreht sich um
und will den gepflegten Vorgarten verlassen. Bernd hält sie zurück: „Ich
glaube, ich weiß, was das bedeutet. Als ich noch ganz klein gewesen bin, hat
Mama mir das mal erklärt. Ein Opa ist der Vater von den Eltern. Die
dazugehörende Mutter heißt Omm. Oder so.“ Anna bleibt stehen. Irgendwie
logisch, dass Mama und Papa auch von jemandem abstammen. Aber mit dieser
Tatsache hat sie sich noch nie auseinandergesetzt. Langsam dreht sie sich
wieder um. Wer oder was auch immer dieser Max ist, er ist anscheinend mit ihr
verwandt. Und Sophie wird sich etwas dabei gedacht haben, als sie ihre Tochter
zu ihm geschickt hat. Hoffentlich.
Betreten sieht Anna dem Mann nach, der eben in der
Küche verschwindet. Das ist also Sophies Vater. Max. Annas Verwandtschaft ist
schlagartig um 25 Prozent gewachsen. Für sie ist dieser Gedanke noch sehr
abstrakt. Immerhin hat sie eben erst erfahren, dass es so etwas wie Großeltern
überhaupt gibt. Und dass sie ein wesentlicher Bestandteil der Familie sein
sollten. Anna schämt sich, weil sie sich nie damit beschäftigt hat. Nicht einen
einzigen Gedanken hat sie je an ihre Herkunft verschwendet, niemals über den
familiären Tellerrand geschaut.
Man kann ihr keinen Vorwurf machen. Sie hat es nicht
anders gelernt. In ihrem Universum beginnt Familie im Elternhaus. Für manche
endet sie auch dort. Noch mehr als ihre eigene Kurzsichtigkeit trifft Anna
jedoch, dass sie nicht angemessen reagieren kann. Sie sieht zum ersten Mal in
ihrem Leben ihren Opa. Und was tut sie? Bittet den Mann, der mit Tränen in den
Augen: „Meine Enkeltochter, meine kleine Anna!“ stammelt, um ein Glas Wasser
und fragt ihn nach der Toilette. Max hat Anna an sich gedrückt und geweint.
Man kann auch ihm keinen Vorwurf machen. Er hat es
noch anders gelernt. In seiner Welt beginnt Familie im Herzen. Und endet nie.
Max ist 79 Jahre alt. Das behauptet er zumindest.
Anna hat eine schwere Krankheit vermutet, die Menschen entsetzlich
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