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Totsein ist Talentsache (German Edition)

Totsein ist Talentsache (German Edition)

Titel: Totsein ist Talentsache (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alkestis Sabbas
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zehn
bis fünfzehn Jahre gewinnen kann. Dass er sich verändern, aber immerhin leben
wird. – Ja, das haben sie uns damals gesagt. Leben ... Ha! Existieren ist wohl
das bessere Wort.“ Kummer und Verbitterung schleichen sich in Sophies Gesicht
und verwandeln ihre eben noch weichen Züge in eine freudlose Larve aus Tränen
und Falten. Bestürzt beißt Anna die Zähne zusammen. Es hilft nichts. Der
Einfluss des Alkohols, der Gedanke an den schwer kranken Vater und die
Erinnerung an sein seltsames Benehmen lassen alle Dämme brechen. Mit einem
verzweifelten Jammern springt sie auf und läuft ins Badezimmer.
    Sophie findet Anna über die Klomuschel gebeugt. Mit
einem feuchten Handtuch wischt sie ihrer Tochter das Gesicht ab, lehnt sie an
die Badewanne und setzt sich neben ihr auf den Boden. Die Kühle der Fliesen tut
Sophie gut. Seit Jahren schon trägt sie geduldig diese Last mit sich herum. Sie
will nicht, dass nun auch noch ihr Kind daran zu schleppen hat. Dass Anna
Friedrich so sieht, ist nicht geplant gewesen. Sie hätte weiterhin in dem
Glauben leben sollen, dass ihr Papa ein Lebemann und Tunichtgut ist. Es wäre
auf Dauer besser für sie gewesen, einen lasterhaften Vater zu verfluchen, als
diesen wandelnden Leichnam zu lieben. Dann wäre auch jener Tag, an dem ihn sein
Schicksal endgültig ereilt, nicht so schmerzhaft für sie. Das Wissen, dass
Friedrich alles, was er auf sich genommen hat, aus Liebe zu seiner Familie und
zu deren Wohl getan hat, lindert das Leid nicht im Geringsten. Weder seines,
noch das von Sophie oder Anna. Aber was geschehen ist, ist geschehen. Das
damals vor zehn Jahren und das heute Nacht. Jetzt gilt es, den Schaden zu
begrenzen. Sophie gibt ihrem Herz einen Ruck, rappelt sich auf und zieht ihre
Tochter hoch. Wie eine Marionette lässt sich Anna von ihrer Mutter ins
Schlafzimmer dirigieren. Auf dem Bett rollt sie sich zusammen und blickt Sophie
vorwurfsvoll an.
    „Warum habt ihr
nie etwas gesagt? Warum hast du nichts gesagt? Und warum ist Papa nie da? Wenn
er arbeiten gehen kann, kann er doch auch heimkommen!“ Beschämt, ihre Tochter
so lange angelogen zu haben und auch jetzt zu feige für die ganze Wahrheit zu
sein, dreht sich Sophie weg und denkt: „Er ist daheim gewesen, Kind. Öfter, als
du glaubst. Und es ist jedes Mal gewesen, als steht man mit einem Fuß im Himmel
und mit dem anderen in der Hölle.“ Zu Anna sagt sie: „Weißt du, dein Papa
braucht sehr spezielle Pflege. Die kann ich hier nicht gewährleisten. Alleine
könnte ich das gar nicht bewerkstelligen. Er hat ein ausgezeichnetes Team um
sich, das ihn quasi rund um die Uhr betreut. In der Bank und auch in seiner
neuen Bleibe. Und er braucht viel Ruhe. Du kannst dir nicht vorstellen, welchen
Schmerz mir die Trennung von meinem geliebten Mann bereitet. Und wie es ist,
das eigene Kind in dem Glauben zu lassen, dass sein Vater ein mieses Schwein
ist. Aber es geht nicht anders. Die Krankheit und vor allem diese besondere Kur
haben ihn sehr verändert. Nicht nur äußerlich. Dein Papa ist manchmal etwas …
na ja, sagen wir mal … unberechenbar. Dann muss er … Nun, dann tut er eben
seltsame Dinge.“
    Sophie ist erstaunt, wie leicht ihr die
Halbwahrheiten über die Lippen kommen. Sie biegt und verändert seit zehn Jahren
Tatsachen - je nach Erfordernis der Umstände. Aber die eigene Tochter derart in
die Irre zu führen, ist sogar für sie der Schritt in eine neue Dimension der
Verzweiflungstaten. Denn angelogen hat sie Anna nie wirklich. Sie hat ihr
gegenüber eher Fakten verschwiegen und gedankliche Irrwege mit
Halogenscheinwerfern ausgeleuchtet.
    Anna kann nun ein wenig nachvollziehen, warum ihre
Mutter hin und wieder und auch dazwischen ein Gläschen zu viel trinkt.
Verbissen brütet sie vor sich hin. Sophie kann das Mahlen und Knirschen der
Gedanken förmlich hören. Sie streichelt ihrer Tochter übers Haar. Immer und
immer wieder. Schließlich beginnt sie ein Lied zu summen, das sie gemeinsam mit
Anna so oft am Klavier gespielt hat. Irgendwann erzielen die monotonen
Berührungen und die wehmütige Melodie das erhoffte Ergebnis: Anna schläft ein.
Sophie dämpft das Licht und setzt sich nachdenklich ans Bett. Ihr ist bewusst,
dass ihre Tochter früher oder später dahinter kommen wird. Erst hinter die Lügen
und dann hinter die Wahrheit. Wenn Anna nicht von selbst draufkommt, wird das
Leben sie darauf stoßen. Das liegt in der Natur der Sache, weil es in der
Familie liegt. Wenn es nicht Anna trifft, dann ihre Kinder.

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