Totsein ist Talentsache (German Edition)
Umso
wahrscheinlicher, wenn Bernd der Vater ist. Sophie kennt seine Eltern und weiß
über deren Zustand Bescheid. Ein dreifaches Hoch auf Erbgut und Gene.
Sophie will etwas unternehmen. Sie muss etwas
unternehmen. Anna muss ihre Entscheidungen zwar selbst treffen, aber sie sollte
zumindest gewarnt sein. Damit sie die Konsequenzen und auch mögliche
Alternativen kennt. Dennoch bringt Sophie es nicht übers Herz, ihrem Kind die
Wahrheit zu sagen. Sie wüsste auch gar nicht, wie.
„Es gibt einen Menschen, der dir die Sache erklären
kann“, flüstert sie. Trotz ihrer Seelenqualen muss sie lächeln. „Erklären ist
vielleicht das falsche Wort. Von Max eine vernünftige Erklärung zu verlangen
ist, als würde man einen Goldfisch auffordern, Mozarts Jupitersymphonie auf
einem Waschbrett nachzuspielen. Aber Max kann dir vieles zeigen. Der Rest wird
von selbst kommen.“
Zärtlich gibt
Sophie Anna einen Kuss auf die Stirn und sagt: „Du fährst aufs Land, mein
Schatz. Am besten mit Bernd, du wirst jemanden an deiner Seite brauchen. Es
wird sich alles aufklären. Du wirst überrascht sein, wenn du Max kennenlernst.
Er ist eindeutig anders als die Leute, die du bisher getroffen hast. Und er ist
vielleicht ein wenig schrullig. Aber er ist der tollste Mensch, den man sich
nur vorstellen kann. Ja, du wirst zu Max fahren. Zu meinem Vater.“
Das Vorzimmer liegt verlassen und ruhig da.
Friedrich ist weg. Johann hat also verstanden. Dunkelheit und Stille legen sich
um Sophie wie ein Mantel. Doch er bringt keine wohltuende Wärme, sondern
bittere Kälte mit sich. Es hätte ein Abend mit der Liebe ihres Lebens werden
sollen. Sophie hat ein paar Stunden lang ihre Vernunft betrügen wollen, um
ihrem Herzen vorzugaukeln, dass es so ist wie früher. Sie hat sich so sehr
danach gesehnt, Friedrich zu sehen, zu spüren - einfach mit ihm zu sein. Mehr
hätte sie gar nicht gebraucht. Mehr wird auch nie wieder möglich sein.
3. Juli 2012
Anna kauert am Beifahrersitz, die Füße auf dem
Armaturenbrett. So richtig erholt hat sie sich noch nicht von den nächtlichen
Ereignissen. Den brummenden Kopf hat sie dank einer großzügig bemessenen Menge
Schmerzmittel im Griff und ihr Magen gibt mangels Inhalt auch schon seit
einiger Zeit kein Zeichen mehr von sich. Dennoch fühlt sich Anna noch immer
matt.
Diesen Umstand
hat Sophie bereits in der Früh ausgenutzt, als sie ihrer Tochter eine gepackte
Reisetasche aufs Bett und sie damit vor vollendete Tatsachen gestellt hat: „Du
machst einen kleinen Ausflug. Erstens musst du jetzt mal raus hier und zweitens
wird es Zeit, dass du gewisse Dinge erfährst. Bernd hab ich schon angerufen. Er
hat sich ein paar Tage freigenommen und holt dich in 15 Minuten ab.“ Selbst
wenn Anna im Vollbesitz ihrer geistigen und körperlichen Kräfte gewesen wäre,
sie hätte sich nicht wehren können. Erbarmungslos hat Sophie ihre Tochter aus
dem Bett gezogen, unter die Dusche gestellt, angezogen und in Bernds Auto
gesetzt.
„Ich hab nichts davon gewusst. Mama hat nie erzählt,
dass sie ein Haus am Land besitzt. Noch dazu im Waldviertel! Dort gibt’s ja nur
Bäume und Gespenster! Und ich weiß auch nicht, wer dieser Max ist. Mama hat nur
gesagt, dass er uns erwartet und sich um alles kümmern wird. Und dass wir uns
nicht schrecken sollen.“ Anna streicht das rosa Kleidchen glatt und starrt auf
die himmelblauen Filzpatschen an ihren Füßen. Die hellen Momente ihrer Mutter
hinsichtlich tragbarer Mode sind offenbar selten und kurz. Vorsichtig nippt sie
am Kaffee, den Sophie ihr vor der Abreise in einer Porzellanschale durchs
Autofenster gereicht hat. Die alte Kindergartentasche voll mit Butterbroten hat
Anna dankend abgelehnt. Die Fahrt soll höchstens zwei Stunden dauern und
außerdem hat sie Kasperl und Pezi nie wirklich leiden können. Nicht im
Fernsehen und noch weniger auf der kleinen Umhängetasche.
Langsam sammelt
sich Anna wieder. Wärme breitet sich in Kopf und Körper aus. Bernd schweigt.
Ausnahmsweise weiß er nicht, was er sagen soll. Als Anna ihm von dem Vorfall
mit ihrem Vater und dem Geständnis der Mutter erzählt hat, ist die Erinnerung
an seine eigenen Eltern wach geworden. Auch sie haben sich nach Stellas Tod
einer Kur in Lainz unterzogen und sind seither wie ausgewechselt. Nicht, dass
er sie rasend oft sieht, aber allein diese Tatsache macht die Angelegenheit ja
noch verdächtiger. Wer lässt sich denn der Familie zuliebe therapieren und
sondert sich dann fast vollständig von ihr ab? Etwas
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