Totsein ist Talentsache (German Edition)
versteht
immer besser, warum ihre Mutter säuft.
Schweigend sitzen die drei um den Tisch, jeder mit
seinen Gedanken beschäftigt. Bernd betreibt Ahnenforschung in eigener Sache,
während Max abwägt, ob er seine Enkeltochter zu einer Karriere als
Marihuana-Einzelhändlerin überreden könnte. Und Anna stellt fest, dass sie in
den vergangenen paar Tagen mehr über das Leben gelernt hat, als in all den
Jahren auf völlig überteuerten Privatschulen. Langsam klärt sich ihr Blick
wieder. Sind wohl doch nur die Kontaktlinsen gewesen.
„Sag mal … Was genau sind denn eigentlich
Altersheime? Und wo sind sie? Ich meine, wenn man davon ausgeht, dass alle
Eltern in Österreich Eltern haben, dann … dann … Wo versteckt man so viele
Großeltern?“
Max erklärt das Konzept eines Altersheimes einschließlich
der Essenszeiten, die sich grundsätzlich an westeuropäischen Zeitzonen zu
orientieren scheinen, und schließt mit den Worten: „Und die stehen alle im
Burgenland. Da ist ja genug Platz.“ Bernd läuft ein Schauer über den Rücken,
als er das hört.
„Die haben euch
in die Arachnoide Quarantänezone gesperrt? Wie kann man nur so grausam
sein?“ Jetzt ist es Max, der entrüstet grunzt. Zugegeben, Podersdorf ist nicht
Florida und der Neusiedler See nicht Miami Beach. Aber das ist noch lange kein
Grund, beleidigend zu werden. Immerhin sind die idyllischen Weiten der
pannonischen Ebene ebenso gelenkschonend wie hörgerätfreundlich.
„Du weißt nichts davon, oder? Na klar, wie auch? Erst
in der Sperrzone und dann im tiefsten Waldviertel – da kann man ja nichts
mitbekommen. 1985 hat es im Burgenland diese entsetzliche Gelsenplage gegeben,
die schlimmste des Jahrhunderts. Also hat man die Bewohner vorübergehend
umgesiedelt – wenn sie nicht eh schon von selbst geflohen sind. Um der
blutsaugenden Geißel Herr zu werden, hat die Regierung dort Spinnen ansiedeln
lassen, die das Problem auf ökologische Weise lösen sollten. Leider haben die
Verantwortlichen die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Also, eigentlich ohne die
Gäste. Die haben sich nämlich satt gefressen und die überschüssigen Kalorien
mit munteren Sexspielchen wieder abgebaut. Allein im ersten Monat hat sich die
Spinnenpopulation verzehnfacht.“ Bernd hält inne, als er Max´ verständnislosen
Blick sieht. Er sieht Anna an und deutet ihr mit einem Kopfnicken,
weiterzuerzählen. Als könnte sie aufgrund der Blutsverwandtschaft Max die ganze
Sache besser verständlich machen. Anna greift zum Schnapsglas, hält aber mitten
in der Bewegung inne. Sie schiebt das Glas von sich weg. „Zeit, eine
Familientradition zu brechen“, sagt sie und trinkt einen Schluck Kaffee. Sie
verzieht kurz ihr Gesicht, als die warme Flüssigkeit ihre immer noch brennende
Kehle hinunterrinnt.
„Also sind sie mit dem Gift angerückt. Und haben
damit ein weiteres Problem geschaffen. Die Spinnen haben auf die Pestizide
nämlich eher gelangweilt bis belustigt reagiert. Und sich gefreut, dass die
Gegend nun endgültig für menschliches Leben ungeeignet ist. Für die nächsten
100 Jahre. Seit 1988 hat Österreich offiziell nur mehr acht Bundesländer. Das
Burgenland ist so was wie die peinliche Version von Osttirol: Man weiß, dass es
da ist, aber man vergisst es ständig. Außerdem ist es absolutes Sperrgebiet,
unbefugtes Betreten wird empfindlich bestraft. Nicht, dass jemand da noch
freiwillig hingehen würde. Die Regierung hat das gesamte Areal in eine
militärische Testzone umfunktioniert. Was immer dort abgeht, hat ganz bestimmt
nichts mit schattigen Pinien und Kaffee-Kränzchen zu tun. Da gibt es nichts
außer achtbeinigen Terroristen und zweibeinigen Waffenfreaks. Es ist ...“
„… die perfekte Tarnung“, beendet Max ihren Satz.
„Kinder, die Geschichte ist grandios, aber schlicht und ergreifend nicht wahr.
Man hat euch beschissen. Es stimmt schon: Gelsen gehören zum Burgenland wie
Störche und schlechte Witze. Aber es hat nie eine Plage biblischen Ausmaßes
gegeben. Also auch keine Spinneninvasion. Und schon gar kein Gift. Glaubt mir.
Ich kenne jeden Grashalm dort unten. Ich habe niemals auch nur einen Soldaten
oder sonst irgendein Ungeziefer gesehen. Von ein paar ortsansässigen Ameisen und
diesem Spinner, der uns jedes Jahr im Sommer mit seiner Operettenrevue gequält
hat, mal abgesehen. Aber es erklärt zumindest, warum uns nie jemand besucht
hat.“ - „Irgendwas läuft hier gewaltig schief. Es ist, als würde man aus einem
wunderbaren Traum aufwachen, nur
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