Totsein ist Talentsache (German Edition)
erklärt der alte Mann mit einem Nicken Richtung Anna. „Unten
hab ich noch mehr. Man muss sie sehr vorsichtig behandeln, weil sie schon so lange
nicht mehr bei uns verkauft werden. Irgendwann hat´s einfach keines von denen mehr
in den Geschäften gegeben. Nur mehr historische Sachbücher, in denen die ach so
glorreiche Geschichte Österreichs bis zur frühen Mitte des 20. Jahrhunderts
besungen wird, sowie ab den Fünfzigern. Zeitgenössische österreichische
Schriftsteller. Und wirklich – wirklich - schlechte Literatur aus dem
Ausland. Bestenfalls zum Hintern auswischen geeignet.“ Er winkt Bernd zu sich,
belädt ihn mit staubigen Alben und Ordnern und geht wortlos davon. In
Ermangelung eindeutiger Anweisungen folgt ihm Bernd.
Die beiden Männer sehen eben Zeitungsartikel und Notizen durch, als
sie ein unheilvolles Rumpeln und einige gottlose Flüche hören. Gleich darauf
steht Anna vor den beiden und versucht, möglichst unschuldig zu schauen. Max
zupft ihr ein paar Spinnweben aus dem Haar und schickt sie mit einem Blick auf
ihre schmutzigen Hände ins Badezimmer.
Als Anna zurückkehrt, hält ihr Großvater gerade einen hitzigen
Monolog: „Ich weiß noch, dass diese Leute auf einmal klüger geworden sind. Oder
anders: Sie haben das, was sie bisher getan haben, plötzlich zehnmal schneller
und hundertmal besser machen können. Als hätte man sie in Roboter verwandelt,
die auf genau eine Fertigkeit programmiert sind. Das ist Anfang der Fünfziger
gewesen. Die Wirtschaft und damit auch die Gesellschaft haben sich unheimlich
schnell erholt, bis sich Österreich schließlich zu dem entwickelt hat, was es
immer noch ist: eine weltweit führende Wirtschaftsmacht. Und anders als im Rest
der Nachkriegswelt ohne Gastarbeiter! Stellt euch mal vor, wie viele Menschen
es in Österreich gäbe, wenn man Zuwanderer ins Land geholt hätte. Acht
Millionen! Mindestens! Aber das ist ja gar nicht notwendig gewesen. Bis heute nicht.“
Aufgeregt tippt Max auf einen
Zeitungsausschnitt, der in einem der altmodischen Fotoalben klebt. Er stammt
aus dem Jahr 1956 und handelt von einer Methode zur Optimierung der
menschlichen Arbeitskraft. Eine Gesellschaft namens Felix Austriacus ruft darin jene Bürger, die über spezielles Wissen oder besondere Fähigkeiten
verfügen, auf, diese in den Dienst des Wiederaufbaus zu stellen. Bei Interesse
möge man sich an das am Ende des Artikels angeführte Institut wenden. Nach
erfolgreicher Absolvierung des Eignungstests und Abschluss der Behandlung
würden Ruhm, Reichtum und ewige Dankbarkeit des österreichischen Volkes winken.
„Alle Wege führen nach Lainz“, meint Bernd, als er zu Ende gelesen
hat. „Dort muss es echt irgendwas ganz Tolles geben … Max, hast du eine Ahnung,
was in dieser Einrichtung mit den Leuten gemacht worden ist? Ich meine, für
mich hört sich das sehr nach Umerziehungslager an. Oder Drogen. Oder irgendeine
Art von psychischer und physischer Manipulation. Oder alles zusammen.“ In Bernd
ist der Forscher erwacht. In Anna die Journalistin. Fieberhaft blättert sie in
den Ordnern, die zahllose ähnliche Berichte enthalten. In beinahe jedem geht es
um diese Anstalt, in der man sich in einen „rentablen Bürger“ verwandeln lassen
kann. Die Sammlung endet mit einem Artikel vom 19. August 1981.
„Ein paar Jahre darauf haben sie mich weggeschickt. Also, eigentlich
bin ich nur auf Kur nach Bad Tatzmannsdorf gefahren. Von der bin ich dann halt
sehr lange nicht zurückgekommen. Aber egal, das ist jedenfalls einer der
letzten Zeitungseinträge, die zum Thema veröffentlich worden sind. Danach ist
das ganze fast von einem Tag auf den anderen totgeschwiegen worden. Ich hätte
all das sowieso nicht aufheben sollen. Die Erinnerung tut weh. Vor allem aber
macht es meine Tat nicht ungeschehen und Grethe nicht wieder lebendig.“
Margarethe. Die Ehefrau von Max. Annas Großmutter. „Meine Oma? Was
haben die mit ihr gemacht?“ Anna sieht ihren Großvater an. Schön langsam wird
es etwas zu persönlich.
„Meine Frau – deine Großmutter – ist eine herausragende Chemikerin
gewesen. Sie hat im April 1961 an diesem Programm teilgenommen. Nach ihrer
Rückkehr ist sie nicht mehr dieselbe gewesen. Das habe ich irgendwann nicht
mehr ertragen.“
6. Juli 2012
„Mein geliebtes
Herz … Ich wünschte, ich wäre wie du. Dann wäre alles anders. Fast wie früher.
Wir wären unter uns. Wir könnten uns nicht wehtun. Wir wären wieder vereint. So
vieles wäre nicht nötig. Kein
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