Totsein ist Talentsache (German Edition)
deprimierend sein,
als verheiratete Frau ein eheloses Dasein zu fristen. Sicher, Sophie Gross
genießt die Rechte einer Ehefrau und kann die damit einhergehenden Pflichten
die meiste Zeit über getrost vergessen. Trotzdem hat sich Anna schon oft gefragt,
warum sich ihre Mutter nicht scheiden lässt – die Abfindung muss beachtlich
sein. Doch dann beobachtet sie, wie Sophie in stillen Momenten die Fotos von
Friedrich ansieht, das in goldene Rahmen gebannte Gesicht streichelt und sich
dabei Tränen aus den Augen wischt. Und sie erahnt, wie sehr ihre Mutter ihn
noch lieben und vermissen muss.
Rasch dreht sich
Anna weg, um Sophie nicht in die Augen sehen zu müssen. Sie weiß, dass sie mit
der Erwähnung ihres Vaters eine schwärende Wunde aufgerissen hat. „Ich bin gegen
Mitternacht zuhause“, sagt sie. „Jo bringt mich bis zur Tür, mach dir also
keine Sorgen.“
Jo. Der zappelige, verrückte, immer nervöse Jo. Anna
verbringt nun schon seit über drei Jahren fast jeden Tag mit ihm. Denn Jo ist
gut in dem, was er tut. Vor allem, weil er es in mehr oder weniger stiller
Anbetung für Anna tut. Er ist Fotograf. Sie ist Journalistin. Die beiden sind
Arbeitskollegen. Ein Team. Mittlerweile enge Freunde. Nicht mehr. Obwohl – oder
besser - weil das Jo in einen Zustand dauerhafter Ekstase versetzen würde. Aber
dann wäre die Anbetung nicht mehr still und Jo nicht mehr so gut in dem, was er
tut.
„Können wir heute das Cabrio nehmen?“ Aufgeregt wie
ein Kind kurz vor Weihnachten zappelt Jo vor Anna herum. Zu Anna gehört nämlich
auch ihr Luxusleben. Und Jo fände es höchst ignorant, wenn er diesen
wesentlichen Bestandteil ihres Lebens vernachlässigen würde. Er sonnt sich
einfach gerne in Annas Glanz – gleich, ob der von ihr selbst oder aus ihrer
Garage kommt.
„Jo, die Party
ist in der Strandbar unten beim Donaukanal. Fünf Minuten von hier. Zu Fuß.“
Enttäuscht wendet Jo seinen Blick zur Straße und sieht wehmütig einem
knallgelben Sportwagen nach, der mit aufheulendem Motor an ihnen
vorüberschießt.
Jo heißt eigentlich Josef-Ottmar Mulder. Aber das ist
sogar für Jos Verhältnisse ziemlich unsexy. Also hat er die Anfangsbuchstaben
seiner beiden Vornamen zusammengefasst und Jo daraus gebastelt. Künstlername
nennt er das.
Jo ist ein auffälliger Typ. Obwohl nur wenige
Zentimeter größer als Anna, wirkt er wie ein Bär. Diesen Eindruck vermitteln
zumindest sein fülliger Körperbau und vor allem sein Gesicht, das von einer
nahezu perfekten Rundheit ist. Es kann aber auch an seiner fast lückenlosen
Körperbehaarung liegen, die in den verschiedensten Blond- und Brauntönen
variiert und in verspielten Rotnuancen des exakt 14 Millimeter langen Vollbarts
gipfelt.
Jo hat den Dreißiger schon vor längerer Zeit
überschritten und führt trotz seines ansehnlichen Einkommens ein einfaches
Leben. Er gibt nämlich fast alles für Computer aus, vor denen er seine gesamte
Freizeit verbringt. Ins richtige Leben stolpert er meist nur, wenn er das tiefe
Brummen eines Sportwagens hört oder wenn der Job ruft. Wieso es ihn
ausgerechnet in die Gesellschaftsredaktion der ÖK.h verschlagen hat,
wird wohl ewig ein Rätsel bleiben. Dennoch vereint Jo einige
Charaktereigenschaften in sich, die Anna sehr schätzt: Er erledigt seinen Job
hoch professionell, ist zuverlässig und vor allem ein loyaler Freund. Anna und
Jo ergänzen sich einfach.
Beide sind neugierig und einander stets Quell
spannender Ideen. Wenn auch manchmal mit sehr unterschiedlichen Motiven und in
Jos Fall nicht immer ganz beabsichtigt. Denn neben seiner Leidenschaft für
Anna, schnelle Autos und Computer widmet er sich mit Hingabe den
unterschiedlichsten Verschwörungstheorien. Anna macht sich regelmäßig einen
Spaß daraus, die jeweilige Paranoia noch auf die Spitze zu treiben.
So hat Jo vor einem Jahr steif und fest behauptet,
dass der handelsübliche Kaffee mit bewusstseinsverändernden Substanzen versetzt
wird, um die Konsumenten gefügig zu machen. In dieser Phase ist er erst am
frühen Nachmittag ansprechbar gewesen. Anna hat ihren Kaffeekonsum verdoppelt
und behauptet, sie kann fliegen.
Kurz darauf ist Jo ganz sicher gewesen, dass Funkwecker
Gedanken lesen können. Wochenlang hat er mit einem Helm aus Alufolie
geschlafen. Anna hat ein Modell aus einem gelben Müllbeutel und Teelichtern
kreiert. Und getragen.
Annas Favorit unter Jos Theorien: Seife macht
impotent. Die Redaktion hat ihn aus ästhetischen Gründen am dritten Tag
beurlaubt. Anna
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