Totsein verjaehrt nicht
hatten, tatsächlich erlebt oder bloß gehört und bei Erwachsenen oder ihren Freunden auf dem Schulhof aufgeschnappt hatten. Die Kinder betonten, dass sie die Wahrheit sagten. Aber die Mitglieder der Soko führten nicht zum ersten Mal Vernehmungen bei einer Kindsvermissung durch und waren deshalb bei der Bewertung zurückhaltend. Trotzdem mussten sie jeden Satz akribisch niederschreiben und jede Aussage gleichwertig behandeln.
Die Aktenberge wuchsen. Bald meldeten sich, wie immer bei spektakulären Verbrechen, die ersten Hellseher, Pendelschwinger, Muschelwerfer und Astrologen, deren Hinweise ebenfalls überprüft wurden, weil man nie ausschließen konnte, dass jemand eine andere Person decken, eine falsche Spur legen oder von sich selbst als Täter ablenken wollte.
Zeugen erklärten, sie hätten Scarlett mit ihrem pinkfarbenen Schulranzen vor einer Gaststätte in Perlach gesehen, an einer Bushaltestelle in Riem, zusammen mit einem älteren Mann vor dem Michaelibad.
Ein Ehepaar aus Berlin, das seinen Urlaub in München verbrachte, schwor, auf dem Foto in der Zeitung ein Mädchenwiedererkannt zu haben, das mit einem bärtigen Mann über den Viktualienmarkt gegangen sei und lautstark mit ihm gestritten habe. Der Mann habe an der einen Hand das Mädchen gehalten, in der anderen einen pinkfarbenen Schulranzen getragen. In welche Richtung die beiden gegangen waren, konnte das Ehepaar nicht sagen. Auch diese Spur blieb im Dunkeln.
Drei Buben hatten beobachtet, wie Scarlett auf der Hechtseestraße in einen roten Mercedes gestiegen war. Erst eine Woche später gaben sie zu, dass der Wagen nur in ihrer Phantasie existierte.
Solche Fehlschläge gehörten zum Alltag der Fahnder wie die Tatsache, dass Zeugen vermisste Personen zur selben Zeit an verschiedenen Orten gesehen haben wollten.
Trotz der noch am 8. April eingeleiteten Großfahndung, der Veröffentlichung von Fotos in überregionalen Boulevardzeitungen, der Befragung sämtlicher Nachbarn, der Durchsuchung von Hinterhöfen, Kellern, Speichern, Lagerhallen, Garagen, leer stehenden Häusern und Hütten in Ramersdorf, trotz sofortiger Einrichtung einer »Besonderen Aufbau-Organisation«, aus der – wie in solchen Fällen üblich – die Sonderkommission gebildet wurde, trotz der Mithilfe Hunderter Bereitschaftspolizisten und Hundestaffeln, von Spezialisten der Operativen Fallanalyse – den Tatort-Profilern –, Rechtsmedizinern und Psychologen, trotz des Einsatzes eines Polizeihubschraubers mit Wärmebildkamera und Videoausrüstung, trotz des unermüdlichen Abarbeitens von mehr als 4500 Spuren, ohne dass die Leiche des Mädchens gefunden wurde – trotz dieses gewaltigen Aufwands blieb am Ende nur das keine zwei Tage anhaltende Geständnis des vierundzwanzigjährigen Jockel Krumbholz.
An den Alibis der unmittelbar Betroffenen hatte es nach Liz’ Eindruck nie einen Zweifel gegeben. Michaela Petersverließ, kurz nachdem ihre Tochter zur Schule gegangen war, »ungefähr um halb neun«, wie sie aussagte, die Wohnung in der Lukasstraße. Sie fuhr mit ihrem Auto, einem roten Polo, ins Klinikum Großhadern, von wo sie gegen 18 Uhr zurückkehrte. Bis auf eine Stunde Mittagspause hatte sie den ganzen Tag im Krankenhaus verbracht, was zwei Ärzte und zwei Krankenschwestern bestätigten. Als Erklärung, warum sie erst um 20.35 Uhr bei der Polizei anrief, um Scarlett als vermisst zu melden, gab sie an, sie habe gedacht, ihre Tochter sei bei einer ihrer Freundinnen in der Nachbarschaft. Nachbarn stützten später diese Aussage.
Ob Michaela Peters zwischen 18 und 20.35 Uhr jemanden getroffen, mit jemandem telefoniert oder Besuch empfangen hatte, stand nicht in den Akten. Sie behauptete, sie habe gebadet und ferngesehen und sei allein gewesen. Kurz nach acht habe sie dann begonnen, sich bei den Nachbarn nach Scarlett zu erkundigen, bei zweien habe sie angerufen, bei einem dritten an der Haustür geklingelt.
Auf die Frage, ob Scarlett öfter spät nach Hause komme, erwiderte Frau Peters: »Manchmal schon, sie ist sehr selbstständig.« Über die körperliche und seelische Verfassung der damals vierunddreißigjährigen Mutter in jener Nacht gaben die Unterlagen nur kryptisch Auskunft. Entweder ihre Stimmung schwankte extrem, oder die Kommissare, von denen neben Fischer nur zwei weitere aus der Mordkommission in der Burgstraße stammten, zeichneten sich durch sehr unterschiedliche Wahrnehmungsfähigkeit aus.
Frau Peters, las Liz Sinkel, wirkte gefasst und nachdenklich. Dann
Weitere Kostenlose Bücher