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Totsein verjaehrt nicht

Titel: Totsein verjaehrt nicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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hin.
     
    Er lag auf dem Bett, mit verschränkten Armen. Wie gestern hatte er einzuschlafen versucht. Es war ihm nicht gelungen. Er trug seine Hose, die keine Bügelfalten mehr hatte, und seinen ausgebleichten blauen Anorak, den er im Kofferraum seines Wagens aufbewahrte, wozu auch immer. Die Schuhe hatte er abgestreift, eher aus Versehen, sie waren ihm von den Füßen gerutscht.
    Neben sich hatte er zwei Fotos gelegt, auf die linke Seite ein Farbfoto von Ann-Kristin, ein Porträt, das er in einem ihrer kurzen Urlaube an der Nordsee aufgenommen hatte. Sie lachte nicht, aber ihr Gesicht war hell und ihre Augen erfüllt von einem besonderen Licht.
    Rechts neben ihm lag das Schwarzweißfoto eines etwa achtjährigen Mädchens, dessen Augen unwirklich blau schimmerten und dessen Gesicht ernst und verschlossen wirkte. Das Mädchen hieß Scarlett.
    Fischer hatte sie nicht gefunden. Und nun wollte ein Junge sie gesehen haben. Obwohl ein Mann wegen Mordes verurteilt worden war und die Polizei Scarlett für tot erklärt hatte.
    Wieso er ihr Foto aus dem Kommissariat mitgenommen hatte, konnte er sich nicht erklären, genauso wenig, wieso er die beiden Fotos überhaupt neben sich gelegt hatte. Das eine hatte mit dem anderen nichts zu tun. Nicht das Geringste. Es waren zwei vollkommen verschiedene Biographien, zwei vollkommen verschiedene Leben, zwei vollkommen verschiedene Menschen.
    Und er? Und ich?, dachte er und hörte nicht auf zu denken: Und ich? Er wusste genau, was er damit meinte. Deswegen schlief er nicht mehr. Deswegen, fürchtete er, würde er Dinge tun, die ihn aus seiner Funktion katapultierten und in eine Rolle hineinmanövrierten, die ihm niemals entsprochen hätte, wenn der Junge nicht aufgetaucht und Ann-Kristin nicht überfallen worden wäre. Wie bisher erst ein einziges Mal in seinem Leben war er ganz auf sich allein gestellt. Da war niemand, den er um Rat fragen, niemand, an dem er sich festhalten, niemand, der ihm folgen konnte. Er war allein zwischen einer Frau, deren Abwesenheit wie ein Abgrund war, und einem Mädchen, für das er womöglich einen eigenen Tod erfunden hatte.
    Was immer andere bisher in ihm, Polonius Nikolai Maria Fischer, gesehen hatten, es war ein Trugbild, die Epiphanie eines verstümmelten Schattens. Denn er existierte nicht in der Wirklichkeit. Wie Gott.
    Allein, wie damals in der Nacht, in der Zelle, im Augenblick des Erkennens.
    Ich bin nicht da, dachte er. Er presste die Arme fester an den Körper und spürte nichts, nur die Kälte in Zimmer 105. Du bist nicht da, dachte er, du hast die Frau und das Mädchenin Fotos verwandelt, damit sie sich anschauen, bis du begreifst, wie windig du bist. So voller Wind und ohne Atem.
    »Nein«, schrie er und sprang aus dem Bett und schlug mit den Händen gegen die Wand und schlug immer weiter, als wäre er wieder im Kloster, als wäre er wieder ein gestürzter Mönch.
     
    »Das ist doch schon verjährt«, sagte Josef Bach und zog an der Zigarette.
    Sie standen auf dem Bürgersteig vor seiner Fahrschule in Perlach, einem Flachbau mit weißblauen Vorhängen an den Fenstern. Seine Adresse wie auch die eines gewissen Max Hecker hatte Fischer aus den Akten abgeschrieben. Bach war ein gedrungener Mann mit hellblauen Augen.
    »Sie selbst haben nie über die kleine Scarlett gesprochen.«
    Bach stippte die Asche in einen weißen Plastikaschenbecher, den er aufs Fensterbrett gestellt hatte. »Wir haben grundsätzlich nicht viel gesprochen, wir haben uns getroffen …«
    Er senkte die Stimme, was den Bohrlärm auf der Baustelle gegenüber noch besser zur Geltung brachte. Fischer glaubte, sein Trommelfell würde platzen, sein Schädel, sein Brustkorb. Im Hotel hatte er vergessen, den Knopf unter der Krawatte zu schließen, und dass sein Gürtel schief saß, war ihm egal.
    Im Krankenhaus nichts Neues.
    »Wir sind in die Kiste«, sagte Bach. »Das war der Grund. Ich bin verheiratet, wissen Sie ja, die Micha ist sechzehn Jahre jünger und … Und sie hat halt schon Fähigkeiten … Wir haben uns beim Bowlen kennengelernt, meine Frau war auch dabei und ein Mann, den sie gut kannte, die Micha. Namen weiß ich nicht. Ich weiß bloß noch, dass der Mannoft von dem Mädchen gesprochen hat. Aber der Vater war’s nicht, glaub ich. Alles verjährt.«
    Er drückte die Kippe aus und schaute auf die Uhr. »Ich erwart gleich eine Schülerin, aus Afghanistan, junge Frau, die lebt hier in München mit ihrer Familie, ganz und gar westlich, faszinierend.«
    »Hieß der Mann

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