Totsein verjaehrt nicht
weiter, bis er sie aufforderte, sich endlich zu setzen und einen Blick in die alten Akten zu werfen, anstatt ihm hinterherzuspionieren.
»Spinnst du?«, hatte sie gesagt. »Ich spionier dir doch nicht nach. Warum redest du so mit mir?«
Darauf hatte er bloß den Kopf gehoben und sich an die Tür gelehnt. Und da stand er immer noch, formulierte seine für ihn selbst bestimmten Gedanken, zitierte aus den Protokollen der Spurensucher, schilderte den unveränderten Zustand seiner Freundin, wiederholte bestimmte Bemerkungen, warf manchmal, wie aus Versehen, einen Blick zum Holzkreuz an der Wand.
Liz saß an dem viereckigen Tisch unter dem Fenster, an dem gewöhnlich Zeugen und Verdächtige ihre Aussagen machten, das Gesicht ihm zugewandt, zum Stillsein verurteilt.
Zwei Stunden blieben sie in dem Raum, und Liz, die damals noch bei den Todesermittlern und nicht in der Mordkommission gearbeitet hatte, las Seite um Seite. Und je länger sie las, desto unerklärbarer, unbegreiflicher erschienen ihr die Vorgänge nach dem Verschwinden von Scarlett Peters, vor allem was die Taktik ihrer Kollegen betraf. Manchmal blickte sie auf und sah Fischer, wie er dastand oder sich mit beiden Armen auf dem Bistrotisch abstützte oder die Hände in die Taschen seines blauen Anoraks steckte, den sie noch nie an ihm gesehen hatte.
Von draußen drangen Stimmen herein, doch Fischers Schweigen riß Liz immer wieder aus ihrer Konzentration. Dann war sie jedes Mal kurz davor, die Hand nach ihm auszustrecken, in der Hoffnung, er würde sie nehmen, wie sonst, und sie festhalten und vielleicht diesen Blick verlieren, der schwarz und schwer auf ihr und auf allem lastete.
Fischer anzusehen erbarmte Liz, wie es ihr manchmal erging, wenn jedes Trostwort, das sie gegenüber Hinterbliebenen von Gewaltopfern zum Ausdruck brachte, in ihren Ohren winzig und belanglos klang. Als Kriminalisten, hatte Liz gelernt, sollten sie solide Sätze benutzen, wenn sie mit den Ruinen von Familien und Beziehungen konfrontiert wurdenund sich mit trainierter Behutsamkeit Schritt für Schritt auf die Wahrheit zubewegten, die wie eine ausgehungerte Katze in einem Schlupfloch unter all den Trümmern auf ihre Befreiung wartete. Manche waren sehr geschickt im Aufspüren der Katze Wahrheit. Manche, wie Polonius Fischer, waren brillant. Sie hatten das absolute Gespür, wie hochbegabte Musiker das absolute Gehör.
Und doch – auch das hatte Liz schon ein paarmal erfahren müssen – ließ ihr Wissen sie allein, dann, wenn unerklärbare und unbegreifliche Umstände sie selbst in Ruinen verwandelten. Wenn sie von einem Tag auf den anderen nur noch von Berufs wegen Kriminalisten waren und ansonsten ratlos Buchstaben stammelnde Analphabeten angesichts des von ihnen so sorgsam verfassten und gehüteten Lebensbuches.
Später benannten sie ihre Wut und Ohnmacht in Nüchternheit und Professionalität um. Sie verurteilten sich zu Schlaflosigkeit und kalter Schauspielkunst und waren überzeugt, der Polizeipräsident würde ihnen am Ende der Ermittlungen einen Oscar für ihr Lebenswerk überreichen. Stattdessen bekamen sie zwischen jedem gesprochenen Satz, jedem Gedanken, nach jedem Klingeln des Telefons nichts als ein abgenutztes Schweigen.
»Willst du einen Kaffee?«, fragte Liz vor lauter Unbeholfenheit.
Fischer, der sich an den Bistrotisch gesetzt hatte, die Hände gefaltet auf der Marmorplatte, sagte – und Liz war erleichtert, seine Stimme zu hören: »Lies weiter, ich bitt dich drum.«
Neben den 534 Seiten, die die Vernehmungsprotokolle des verurteilten Hauptverdächtigen umfassten, bestand die Akte Scarlett Peters aus knapp eintausend Seiten mit weiteren Aufzeichnungen, Skizzen, Fotos und Erklärungen.
Was die Aussagen jener Personen betraf, die das neunjährigeMädchen angeblich am Nachmittag des 8. April gesehen hatten, so konnte keine einzige davon im Verlauf der Ermittlungen verifiziert werden. Eine Behauptung reihte sich an die nächste, eine Vermutung übertraf die nächste, ein Gerücht jagte das andere. Widersprüche überlappten sich.
Mehrmals mussten die Fahnder der Sonderkommission den Zeitpunkt des Verschwindens der Schülerin nach vorn verlegen, anfangs gingen sie von 16 Uhr aus, dann von 15 Uhr, 14.30 Uhr und schließlich von 14 Uhr. Doch auch dafür hatten sie nur vage Beweise.
Schon einen Tag nachdem die Suche nach Scarlett begonnen hatte, wussten ihre Klassenkameraden und andere Schüler nicht mehr, ob sie das, was sie gegenüber den Kommissaren ausgesagt
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