Totsein verjaehrt nicht
Mal, dass Yilmaz Fischer herausforderte, nicht, um ihn zu einem emotionalen Ausbruch zu verleiten, sondern in seiner Funktion als Vernehmer. Weil Yilmaz testen wollte, wie der Kommissar die Spur zur Wahrheit finden würde.
»Erst muss ich Sie dem Untersuchungsrichter vorführen«, sagte Fischer. »Erzählen Sie mir, wie Sie Dennis Socka kennengelernt haben.«
»Bin ich Geschichtenerzähler?«
»Sie kennen sich aus Pasing, aus der Dachstraße.«
»Bestens informiert, Herr Fischer.«
»Mich interessiert, wie Sie sich kennengelernt haben.«
»Wieso?«
»Wieso mich das interessiert?« Fischer machte eine Pause,faltete die Hände auf dem Tisch. Er war jetzt wieder in seiner Rolle als Vernehmer, niemand anderes. Die Welt bestand aus einem viereckigen Tisch und einem Gegenüber, das er zu demaskieren hatte, sonst nichts. Er hatte jemanden zu demaskieren, das war seine Aufgabe, sonst nichts. Zu nichts sonst war sein Kopf jetzt nütze, jeder Winkel in seinem Kopf.
Yilmaz hob die Schultern.
»Ich möchte begreifen«, sagte Fischer, »warum Ihr Freund Dennis in Untersuchungshaft sitzt. Er hat Dinge getan, die nicht zu ihm passen. Warum überfällt er Taxis? Warum verletzt er Menschen? Warum geht er keiner geregelten Arbeit nach wie Sie? Helfen Sie mir, diesen Jungen zu verstehen.«
»Taxis hat er überfallen? Hätt ich ihm nicht zugetraut.«
»Das ist es, was ich meine: Ich hätts ihm auch nicht zugetraut.«
»Sie kennen den doch überhaupt nicht. Nicht angeben, Herr Fischer.«
»Seine Schwester und seine Eltern haben mir von Dennis erzählt, und ich hab auch mit ihm selbst gesprochen. Er hat sich sehr fair Ihnen gegenüber verhalten. Möchten Sie was trinken?«
Yilmaz ließ den rechten Arm baumeln. »Fair heißt was? Wer ist schon fair? Fair, wer? Wer fair?«
Er grinste. Fischer ließ ihn nicht aus den Augen. Yilmaz’ Arm schlenkerte vor und zurück. »Der Dennis. Warum sitzt der noch mal in U-Haft?«
»Mordversuch, schwere Körperverletzung.«
Yilmaz ließ auch den linken Arm hängen und hörte mit dem rechten auf zu schlenkern. »Mordversuch an wem?«
»An der Taxifahrerin Ann-Kristin Seliger.«
»Wie heißt die?«
»Ann-Kristin Seliger. Kennen Sie sie?«
»Woher denn?«
»Sie sind in ihrem Taxi gesessen.«
»Ehrlich?«
»Ja.«
»Ich fahr selten Taxi.«
»Ob Sie mit ihr gefahren sind, weiß ich nicht«, sagte Fischer. »Ich weiß nur, dass Sie in ihrem Taxi saßen.«
»Was Sie alles wissen.«
»Fasern, Stoffpartikel, wozu haben wir die teuren Elektronenmikroskope? Sie waren also in diesem Taxi, Sie haben die Fahrerin niedergeschlagen, Sie haben sie beraubt, Sie haben sie verschleppt, Sie haben sie gefesselt, getreten, noch mal geschlagen und liegen gelassen. Durch einen Zufall wurde sie entdeckt, ein wachsamer Spaziergänger hat sie winken sehen.«
Yilmaz saß reglos auf dem Stuhl.
»Winken ist der falsche Ausdruck«, sagte Fischer und dachte, dass er ein Vernehmer war, niemand anderes. Er zitierte aus Akten, nichts sonst. »Sie machte mit letzter Kraft auf sich aufmerksam. Und das finde ich fair von Ihrem Freund Dennis, dass er Ihnen keinerlei Schuld zuweist und versichert, Sie beide hätten die verletzte Frau nicht ausgezogen.«
»Was hat der versichert? Wen versichert der?«
»Er meinte, Sie beide hätten die Frau nicht nackt ausgezogen. Er hätte das nicht zugeben müssen. Er hat es aber getan.«
»Wir haben die Frau nicht ausgezogen? Wir? Der Dennis und ich? Was für eine Frau? Von wem redet der?«
»Von der Taxifahrerin. Von der Kollegin von Dennis’ Onkel, der erstochen worden ist.«
»Von wem erstochen worden?«
»Von Dennis oder von Ihnen«, sagte Fischer mit geübter Stimme. »Die Tatwaffe haben wir bei Dennis gefunden, aberdas beweist nicht viel, er könnte das Messer für Sie aufbewahrt haben.«
Nach einer ersten Analyse im Kriminaltechnischen Institut war eines der beiden in Dennis’ Wohnung sichergestellten Messer mit hoher Wahrscheinlichkeit die Tatwaffe im Fall Claus Socka. Griff und Klinge waren gesäubert worden, aber nicht gründlich genug.
»Ich hab niemand erstochen«, sagte Yilmaz.
»Warum hat Dennis seinen Onkel erstochen?«
»Haben Sie ihn nicht gefragt, Herr Fischer?«
»Noch nicht, das mache ich morgen früh. Er braucht erst Zeit, um über alles nachzudenken. So eine Nacht in der Zelle hilft beim Nachdenken.«
»Versteh ich.« Yilmaz legte wieder die Hände hinter die Stuhllehne und krallte die Finger ineinander, bewegte sie unaufhörlich. Offensichtlich
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