Totsein verjaehrt nicht
als vermisst?«
»Was denn sonst?« Sie musste husten. Sekundenlang bebte ihr Körper.
»Die Polizei wird nichts unternehmen«, sagte Fischer. »Du bist erwachsen, du kannst gehen, wohin du willst.«
»Du bist so schlau.« Eine Weile ruckelte sie noch hin und her und krallte ihre Fingernägel in seinen Mantel. Immer wieder warf der Taxifahrer einen Blick in den Rückspiegel, und Fischer tat, als bemerkte er es nicht.
Als sie die Hochäckerstraße zwischen Ramersdorf und Perlach erreichten, lehnte Michaela Peters an der Tür, schnaufte leise und schlug in Abständen den Kopf gegen die Fensterscheibe.
»Vorne bei der Bushaltestelle steigen wir aus«, sagte Fischer nach einigen Metern auf der Unterhachinger Straße zum Fahrer.
Das Taxi hielt auf dem Parkplatz hinter dem Bushäuschen. Durch die Tür auf seiner Seite zog Fischer die Frau ins Freie und stellte sie wie eine Puppe aufrecht hin. Mit schlenkernden Armen wankte sie hin und her, ihr Kopf kippte von einer Seite auf die andere.
Als das Taxi im Dunkeln außer Sichtweite war, griff Fischer nach Michaelas Hand und zerrte sie hinter sich her auf das Tor zu.
»Was machen wir hier?«, lallte sie und schaute sich verwirrt um.
»Wir steigen drüber.«
»Spinnst du?«
Sie wollte zuschlagen. Ihr Arm schnellte nach hinten. Er packte sie unter den Achseln, wuchtete sie in die Höhe, stemmte sie hoch und schob sie so lange nach oben, bis sie aus Angst, über das Tor zu kippen, die Beine nachzog und sich am Gitter festhielt.
Mit einem ungelenken Sprung landete sie auf der anderen Seite. Da sie mit den flachen Händen auf dem Asphalt aufgeschlagen war, schrie sie vor Schmerz. Sie kniete auf dem Boden. Der Mantel war ihr halb von den Schultern gerutscht. Sie pustete ihre Handflächen an.
Wenn sie Fischer beim Klettern über das Gitter beobachtet und gesehen hätte, dass er sich nicht gerade sportlich anstellte, hätte sie sich vielleicht mehr Widerstand zugetraut. So aber stieß sie nur einen kurzen Schrei aus, als er sie wieder unter den Achseln packte, in die Höhe zog und sich mit ihr auf den Weg über den Friedhof machte.
Sie stolperte über ihre Beine. Sie wusste nicht wohin mit den Armen, ihr Körper bebte. Tränen rannen ihr übers Gesicht. Sie schniefte und keuchte mit offenem Mund.
Fischer packte sie fester und schleifte sie neben sich her.
Schwarz lag der Weiher hinter der Wiese. Der Wind ließ das Wasser leise plätschern und die Blätter rascheln. Kein Mondlicht drang durch die Wolken. Das Schleifen von Michaelas Schuhen auf dem asphaltierten Weg entfachte mit jedem Meter neuen Zorn in Fischer.
Von diesem Zorn war er lange verschont geblieben. Erkannte ihn aus den Nächten in seiner Zelle, als seine Zeit dort zu Ende ging und das Schweigen Gottes ihn in einen Wahn trieb, den er aus sich herausschreien musste, Nacht für Nacht, wochenlang, mit rasendem Herzen und einer Stimme, die aus den Untiefen seiner Furcht kam.
In dieser Nacht auf dem Neuen Südfriedhof in Perlach raste sein Herz wieder, in seinem Kopf wüteten Gedanken, er war nicht bei Sinnen, und was er tat, war sinnenlos.
Und er hatte die Kraft nicht, umzukehren.
Er trieb nicht nur Michaela Peters mitten in der Nacht über einen Friedhof, er trieb sich selbst immer weiter, seit er in Hardys Lokal angefangen hatte, mit Willi zu reden, mit Mimi Oberhaus, mit den Geistern aus Scarletts Vergangenheit.
»Lass mich los«, schrie Michaela Peters und heulte. »Lass mich los, ich krieg keine Luft.«
Er packte sie im Nacken und drückte ihren Kopf auf die Erde des Grabes.
»Ich ersticke«, schrie sie. »Ich fleh dich an, was willst du von mir?«
»Ich will, dass du deiner Tochter zuhörst. Du sollst ihr zuhören.«
Sie lag unter ihm auf dem Grab. Er kniete auf ihr, seine Knie auf ihren Beinen, eine Hand in ihrem Nacken, eine Hand in ihren Haaren. Er drückte ihre Stirn ins nasse Gras.
»Die kann doch nichts sagen.« Sie spuckte aus und hustete und rang nach Luft.
»Du sollst deine Tochter nicht anspucken«, sagte Fischer mit lauter Stimme. »Was sagt deine Tochter?«
Er zog an ihren Haaren, bog ihren Kopf nach hinten. Ihr Gesicht war nass, es roch nach Gras, nach lehmiger Erde.
»Scarlett ist nicht da.« Sie keuchte. Speichel tropfte ihraus dem Mund. »Ich weiß doch nicht, wo sie ist. Ich weiß nicht, was passiert ist. Warum … warum machst du das mit mir? Ich bin doch ihre Mutter, ich hab sie doch nicht umgebracht … ich schwörs dir … ich schwöre es bei Gott …«
»Woher
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