Totsein verjaehrt nicht
sagte Fischer. »Scarletts Vater?«
Sie nahm das Feuerzeug und zog eine Zigarette aus der Packung. »Du meinst den Ringo. Den kenn ich. Nicht so gut, aber … Der hat angerufen an dem Tag! Jetzt, wo du seinen Namen erwähnst. Er hat mich angerufen, das erste Mal seit Jahren.«
»Wann hat er dich angerufen? Um wie viel Uhr?«
»Um wie viel Uhr. Hallo? Das ist sechs Jahre her. Mittag rum. Hat gesagt, er ist in der Nähe und ob er mal vorbeischauen könnt, wie früher. Hat mir nicht gepasst. Der hatte immer so Nummern drauf, die mir nicht gefallen haben, Scheißnummern.«
Fischer gab ihr Feuer. Sie rauchte mit finsterer Miene. »Mag ich nicht drüber sprechen, ist vorbei. Ich hab zu ihm gesagt, ich hab keine Zeit, er hat rumgedrängt und gesagt, er hat genug Geld dabei. Ich lass mich nicht bestechen. Ich hab dann gesagt, ich muss weg. Aber ich hab Schiss gehabt, dass er trotzdem vorbeikommt, obwohl ich am Telefon das Gefühl hatte, er weiß nicht mehr, wo ich wohn. Er ist nicht aufgetaucht, Gott sei Dank.«
»Und du bist sicher, das war an dem Tag, an dem Scarlett verschwunden ist.«
»Ganz sicher. Ein Scheißtag, von in der Früh bis in die Nacht.«
»Wann genau der Ringo angerufen hat, weißt du nicht mehr.«
Sie bohrte die Schuhspitze in seinen Oberschenkel und warf ihm einen verständnislosen Blick zu.
20
»Ich fleh dich an, hab Erbarmen mit mir«
Vielleicht hätte er sein Leben in dieser Nacht nicht zu persönlich nehmen und weniger draußen sein und weniger telefonieren sollen.
»Sie haben mich aufgeweckt«, sagte sie mit lädierter Stimme.
»Ich muss mit Ihnen sprechen. Sind Sie allein?«
»Ja.«
»Wo ist Ihr Freund?«
»Was wollen Sie von mir? Wie spät ist es?«
»Wir müssen uns treffen.«
»Wozu denn?«
»Es geht um Ihre Tochter, Frau Peters, immer noch und immer wieder.«
»Haben Sie was getrunken?«
»Wo ist Ihr Freund, Frau Peters?«
»Unterwegs, Dienstag ist sein Fußballtag, danach gehen sie einen trinken. Lassen Sie mich in Ruhe.«
»Nein. Wir treffen uns in der Kneipe am Eck zur Pilgersheimerstraße, in fünfzehn Minuten.«
»Ich bin im Bett.«
»Sie sind vor dem Fernseher eingeschlafen«, sagte Polonius Fischer. Die Stimmen im Hintergrund waren nicht zu überhören. »In fünfzehn Minuten.«
»Da können Sie lange warten.«
Das Lokal war ein dunkler, beinahe leiser Ort, an dem zwei Männer am Tresen in ihren Stimmen nach Sprache buddelten. Es schien sie nicht zu stören, dass sie nur noch skelettierte Wörter fanden. Mit ihren Zigaretten fochten sie wie mit Schwertern gegen den Raum zwischen ihren Gesichtern. Der Wirt schaute fasziniert zu, als spiele sich vor seinen Augen ein Ereignis in Cinemascope ab.
Fischer setzte sich ans Fenster, vor eine gelbliche, nach allem Möglichen riechende Gardine. Kaum hatte der Wirt ihm ein Glas Wasser gebracht, kam Michaela Peters herein, keine fünf Minuten nach ihm.
Sattelfest im Begrüßen, wandten die Männer am Tresen sich zu ihr um.
»Grüß dich, Micha.«
»Micha, grüß dich.«
Fischer dachte an einen männlichen Micha.
»Wo ist der Hanno?«, fragte der Wirt, als er Michaela einen Fernet auf Eis servierte.
»Fußball.«
Der Wirt, ein Mann jenseits allen Alters, knetete ein Geschirrtuch und kehrte zu den Totengräbern zurück.
Ihren schwarzen Mantel trug Michaela Peters offen. Darunter hatte sie ein beigefarbenes Wollkleid an, dessen enger Schnitt ihren Bauch und ihre Hüften stark zur Geltung brachte. Sie hatte sich flüchtig geschminkt, aber ihre rot unterlaufenen Augen und die schweren Lider verrieten ihren Zustand ebenso wie das leichte Zittern ihrer Hände.
Ich sollte nicht hier sein, dachte Fischer, es ist falsch, was ich tue. Und er dachte, dass dies alles nicht im Mindesten dem entsprach, was man als Hauptkommissar von ihm erwartete. Und dass er mit seinem Verhalten noch im Nachhinein das ehrliche Ansinnen von Marcel Thalheim in den Dreck zog, indem er sich einredete, seiner Intuition zu folgen.
Sofort aufstehen und gehen, dachte er.
Was er in den vergangenen Stunden erfahren hatte, reichte aus für neue Ermittlungen. Wenn sie die Anwesenheit von Robert Borkham am 8. April in München beweisen konnten und die Stelle außerhalb Münchens fanden, an der Mimi Oberhaus mit Borkham und anderen Freiern Sex gehabt hatte, und wenn nicht Eberhard Krumbholz, sondern Scarletts Vater die Leiche dort …
Und er dachte an Marcel und das Mädchen unter dem Tisch, die sich in Scarlett verwandelt hatte.
Und er fror und
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