Toxic: Der Biss - Das Feuer - Die Hölle Thriller (German Edition)
ausgetragen hatten.
»Was geschah, nachdem Sie sie mit der Nadel durchbohrt und Luft in Ihren Blutkreislauf gebracht hatten?«, fragte Whelton gegen Ende meiner Aussage.
Ich warf einen flüchtigen Blick auf Lil. »Sie fiel vom Bett. Ich dachte, sie sei tot.«
»Was war nach Meinung der Ärzte mit ihr geschehen?«, beharrte Whelton.
»Da müssen Sie die Experten fragen«, erwiderte ich. »Damit kenne ich mich nicht aus.«
Als Nächste wurde Christina aufgerufen. Als Neuropsychiaterin bezeugte sie, dass der Schmerz und die Scham in den Kindheitsjahren von Lil Stark so groß gewesen sein mussten, dass sie jahrelang in einen amnesieartigen Zustand verfallen sei, in dem sie zu Janice Hood wurde, einer funktionierenden Mitbürgerin, die ihren Beitrag zur Gesellschaft leistete. Nur wenn es um Sexualität ging, konnte sie diese Fassade nicht mehr aufrechterhalten.
»Die Methode, mit der sich Lil Stark half, war im Grunde nicht ungewöhnlich«, erklärte Christina. »Jeder von uns erfindet sich selbst beinahe täglich neu, passt sich den Lebensumständen an, die sich aus Vergangenheit und Gegenwart ergeben. Für manche ist diese tägliche Neuerfindung ein kreativer Akt, der Gutes bewirkt. Für andere, wie Lil Stark, dienen sie leider nur dazu, die dunkle Seite ihres Wesens zu maskieren. Natürlich ist diese Erörterung von Lil Starks früherem Geisteszustand rein hypothetisch«, fuhr sie fort. »Als Lieutenant Moynihan ihr die Spritze in die Brust stieß, durchbohrte sie die Brustplatte zwischen der dritten und vierten Rippe und drang einen Zentimeter oberhalb des Herzens in die Aorta ein. Das Serum und die Luftbläschen führten zu einer Embolie, die direkt von der Aorta in die Halsschlagader und durch weitere Blutgefäße ins Hirn überging. Die medizinische Untersuchung ergab, dass sie vier bis fünf kleinere und einen schweren Schlaganfall erlitt, der den Stirnlappen betraf.«
»Was wird durch den Stirnlappen kontrolliert, Dr.Varjjan?«, fragte Whelton.
»Die Identität«, erwiderte sie. »Die Persönlichkeit.«
»Und wessen Persönlichkeit und Identität legt sie nun an den Tag?«, wollte der Verteidiger wissen. »Die von Lil Stark oder die von Janice Hood?«
Christina schüttelte den Kopf. »Keine von beiden«, sagte sie. »Beide sind nichtig.«
»Ersetzt wodurch?«
»Durch nichts«, gab sie zurück. »Alles, was sie war oder für sich erfand, wurde ausgelöscht. Sie kann nicht einmal einfachste Anweisungen ausführen. Sie kann nicht selbständig essen oder zur Toilette gehen. Lil Stark ist in jeder Hinsicht auf eine rein vegetative Existenz gesunken.«
78
Am frühen Nachmittag verkündete Richterin Allen das Urteil: Lil Stark sei prozessunfähig und könne sich nicht verteidigen. Allen ordnete an, sie in der Abteilung für Straftäter im neuen psychiatrischen Krankenhaus Lone Pine in den östlichen Sierras unterzubringen.
Wenige Minuten nach der Urteilsverkündung kehrten Christina und die anderen Mitglieder meines Teams zur Arbeit zurück. Rikko begleitete mich in den Keller des Gebäudes, um zu beobachten, wie Lil Stark aus ihrer Zelle in das Transportfahrzeug gebracht wurde, ein weißer Bus mit Rollstuhllift. Er parkte dicht an einer Säule in der Tiefgarage, etwa zwanzig Meter vom Fahrstuhl entfernt. Zwei Gefängniswärter mit Sanitäterausbildung warteten neben dem Bus, um den Transport zu begleiten.
Als Lil Stark aus dem Aufzug geschoben wurde, hing ihr Kopf noch stärker nach links, und mir kam in den Sinn, dass sie nun zu dem geworden war, was sie immer hatte sein wollen: Ein Mensch ohne Vergangenheit, ein Mensch ohne Gott, eine Exilantin auf Wanderschaft im Lande Nod.
Bestürzt stellte ich fest, dass diese Erkenntnis mein inneres Elend noch verstärkte. Gut, ich hatte eine neue Chance erhalten, ich hatte Frieden mit meinem Vater geschlossen. Aber gleichzeitig hatte ich das Gefühl, als sei der Fluch auf mich übergegangen, mit dem der sterbende Caleb vor so vielen Jahren seinen Bruder Lucas belegt hatte. Ich hatte Janice Hood und Lil Stark vernichtet, hatte beide Persönlichkeiten wie einen beunruhigenden Satz von einem Computerbildschirm gelöscht.
Ich sagte mir, wenn die Haut, in der früher ihre Seele steckte, an Bord der Nomad’s Chant gestorben wäre, dann hätte ich die psychische Wunde, die sie mir zugefügt hatte, verschorfen lassen können, so wie meinen Schmerz über den Tod meines Vaters.
Aber da sie lebte, als leere Hülle ihrer zwei Persönlichkeiten, wusste ich, dass die Narbe
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