Toxin
einen neuen Weinkrampf aus, den sie mit Mühe zu unterdrücken versuchte.
»Es geht ihr schlechter«, brachte sie schließlich hervor. »Dr. Stevens hat von einem rapide fortschreitenden Versagen der wichtigsten Organe gesprochen. Das meiste war mir unverständlich, aber sie hat mir geraten, mich auf das Schlimmste gefaßt zu machen. Ich glaube, sie meint, daß Becky sterben könnte.«
»Becky stirbt nicht!« widersprach Kim so entschieden, daß es beinahe wütend klang. »Wie kommt sie dazu, so etwas auch nur anzunehmen?«
»Becky hatte einen Schlaganfall«, erklärte Tracy. »Sie glauben, daß sie blind ist.«
Kim schloß die Augen. Daß seine zehnjährige Tochter einen Schlaganfall gehabt haben sollte, war für ihn schier undenkbar. Andererseits war ihm klar, daß sich ihr Zustand seit dem Ausbruch der ersten Krankheitssymptome stetig verschlechtert hatte.
Er ließ Tracy im Warteraum stehen und stürmte zum Eingang der Intensivstation. Genau wie am Nachmittag zuvor, befand sich eine ganze Schar von Ärzten in Beckys winzigem Zimmer. Kim drängte sich hinein und erblickte ein neues Gesicht: Dr. Sidney Hampton. Sie war Neurologin. »Dr. Reggis«, rief Dr. Stevens.
Kim beachtete die Kinderärztin nicht. Umgeben von Drähten, Schläuchen und High-Tech war Becky nur noch ein Schatten ihrer selbst. Flüssigkristall-Sichtanzeigen und Kontrollbildschirme zeugten in Form von digitalen Meßwerten und Cursorlinien davon, daß sie lebte.
Ihre Augen waren geschlossen. Ihre Haut hatte eine durchsichtige, bläulichweiße Farbe.
»Becky, ich bin’s, Dad«, flüsterte er ihr ins Ohr und musterte ihr erstarrtes Gesicht. Es gab keine Anzeichen, daß sie ihn gehört hatte.
»Sie ist leider nicht ansprechbar«, erklärte Dr. Stevens. Kim richtete sich auf. Er atmete flach und schnell. »Sie glauben, Becky hatte einen Schlaganfall?«
»Alle Anzeichen sprechen dafür«, erwiderte Dr. Hampton. Kim mußte sich ermahnen, seine Verzweiflung nicht dem Überbringer der schlechten Nachricht zuzuschreiben. »Das Hauptproblem ist, daß das Toxin die Thrombozyten so schnell zu zerstören scheint, wie wir sie ihr zuführen«, erklärte Dr. Ohanesian.
»Richtig«, bestätigte Dr. Hampton. »Wir haben keine Möglichkeit festzustellen, ob eine intrakranielle Blutung oder ein Thrombozytenembolus die Ursache war.«
»Oder sogar beides«, fügte Dr. Ohanesian hinzu. »Auch das könnte möglich sein«, stimmte Dr. Hampton ihm zu.
»Ob so oder so«, fuhr Dr. Ohanesian fort. »Die schnelle Zerstörung der Thrombozyten muß ihren Mikrokreislauf völlig zum Erliegen bringen. Wir haben jetzt eine Situation, die wir ganz und gar nicht mögen: Ihre wichtigsten Organe versagen eines nach dem anderen, und zwar rasend schnell.«
»Die Nieren- und Leberfunktion läßt definitiv nach«, bestätigte Dr. Horowitz. »Die Peritonealdialyse reicht nicht mehr aus.«
Kim mußte sich zusammenreißen, um bei all dem Gerede seiner Kollegen nicht auszurasten. Seiner Tochter halfen sie damit jedenfalls nicht. Er zwang sich nachzudenken und einen kühlen Kopf zu bewahren.
»Wenn die Peritonealdialyse nicht ausreicht«, begann Kim mit bemüht ruhiger Stimme, »sollten wir Becky vielleicht ins Suburban Hospital verlegen. Da kann sie zumindest an ein richtiges Dialysegerät angeschlossen werden.«
»Völlig ausgeschlossen«, sagte Dr. Stevens. »Ihr Zustand ist zu kritisch. Sie kann unmöglich transportiert werden.«
»Irgend etwas sollte aber vielleicht getan werden!« fauchte Kim. Er konnte seine Wut nun doch nicht mehr ganz unterdrücken. »Ich denke, wir tun schon alles, was wir können«, stellte Dr. Stevens klar. »Wir unterstützen aktiv ihre Atem- und Nierenfunktionen, und wir ersetzen ihre Thrombozyten.«
»Wie sieht es mit einer Plasmapherese aus?« fragte Kim. Dr. Stevens sah Dr. Ohanesian an.
»AmeriCare genehmigt Plasmapherese nur widerwillig«, erklärte Dr. Ohanesian.
»Zum Teufel mit AmeriCare!« ereiferte sich Kim. »Wenn es auch nur einen Funken Hoffnung gibt, daß der Plasmaaustausch Becky helfen könnte, dann fangen Sie sofort damit an!«
»Mäßigen Sie sich, Dr. Reggis!« entgegnete Dr. Ohanesian. Der grauhaarige Mann verlagerte sein Gewicht auf das andere Bein. Das Thema war ihm offenbar unangenehm.
»AmeriCare ist immerhin Eigentümerin dieses Krankenhauses. Wir können nicht einfach auf ihre Vorschriften pfeifen. Plasmapherese ist teuer und experimentell. Bei Familien ohne medizinischen Background soll ich diese
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