Toxin
als bei mir eine Grippe im Anmarsch war. Erinnerst du dich?«
»Klar erinnere ich mich«, erwiderte Kim. »Du bist völlig am Ende«, fügte Tom hinzu. »Verständlicherweise.«
Kim mußte zugeben, daß Tom recht hatte: Er war total erschöpft. Er hatte fast die ganze Nacht mit Tracy im Warteraum der Intensivstation verbracht. Als Beckys Zustand sich unzweifelhaft stabilisiert hatte, hatte Tracy ihn überredet, sich in einem der Bereitschaftsräume für Assistenzärzte ein bißchen hinzulegen. Sie war es auch gewesen, die ihn davon überzeugt hatte, seine geplanten Operationen durchzuführen. Sie hatte gesagt, daß seine Patienten ihn brauchten. Da er für Becky sowieso nichts tun könne, solle er lieber seiner normalen Arbeit nachgehen, hatte sie gemeint. Schließlich hatte sie ihn damit überzeugt, daß er ja im Krankenhaus sein würde und im Notfall erreichbar wäre.
»Wie haben wir das nur damals während unserer Ausbildung durchgestanden?« fragte Kim. »Da haben wir fast nie geschlafen.«
»Wenn man jung ist, geht das«, entgegnete Tom. »Nur leider sind wir nicht mehr jung.«
»Wie wahr«, bemerkte Kim und zögerte einen Moment. Einen Fall abzugeben, fiel ihm nicht leicht, selbst wenn er ihn an einen so qualifizierten Chirurgen wie Tom abtrat. »Okay«, sagte er schließlich. »Mach du weiter. Aber ich passe auf wie ein Luchs.«
»Etwas anderes hätte ich auch nicht erwartet.« Tom kannte Kim schon so lange, daß er wußte, wann er etwas im Scherz meinte.
Die beiden Chirurgen kehrten an den Operationstisch zurück. Diesmal stellte Tom sich auf die rechte Seite des Patienten. »Okay, weiter geht’s«, sagte Tom. »Schieben wir also diese Kanüle rein. Skalpell bitte!«
Unter Toms Leitung lief die Operation glatt weiter. Obwohl Kim links neben dem Patienten stand, war er derjenige, der die Herzklappe plazierte und die ersten Nähte anlegte. Tom erledigte den Rest. Als das Brustbein geschlossen war, sagte Tom, daß er den Rest allein erledigen könne. »Wirklich?« hakte Kim nach.
»Klar«, entgegnete Tom. »Sieh zu, daß du auf die Intensivstation kommst und nach Becky schaust!«
»Danke«, sagte Kim. Er verließ den OP-Tisch und zog sich Kittel und Handschuhe aus.
Als er die schwere OP-Tür öffnete, rief Tom ihm hinterher: »Die Anweisungen für die OP-Nachsorge diktieren Jane und ich. Wenn ich sonst noch etwas für dich tun kann, ruf mich an!«
»Danke, das ist wirklich nett von dir«, entgegnete Kim und eilte in den OP-Umkleideraum. Er zog sich nicht um, sondern streifte nur einen langen, weißen Kittel über seine OP-Sachen. Vor und zwischen den Operationen war er jedesmal kurz zur Intensivstation hinübergelaufen und hatte nach Becky gesehen. Ihr Zustand hatte sich ein wenig gebessert, und die Ärzte überlegten bereits, ob sie das Beatmungsgerät abschalten konnten. Kim hatte sich keine allzu großen Hoffnungen gemacht; schließlich wurde sie noch keine vierundzwanzig Stunden beatmet.
Vor seiner ersten Operation hatte er sogar noch Zeit gehabt, ein weiteres Mal bei Dr. Turner anzurufen und ihn zu fragen, ob man seiner Meinung nach noch etwas für Becky tun könne. Leider war ihm außer einer Plasmapherese, von der er jedoch abriet, auch nichts eingefallen.
Bei einer Plasmapherese ersetzte man das Plasma des Patienten durch gepooltes, frischgefrorenes Plasma. Leider galt die Behandlung als umstritten und experimentell, da das Begleitrisiko einer HIV-Infektion enorm hoch war, denn das neue Plasma stammte von Hunderten verschiedener Spender. Die Fahrstuhltüren glitten auf, und Kim war geschockt, als er sich einer Gruppe lachender Pfleger und Schwestern gegenübersah, die ihre Schicht beendet hatten und sich auf den Feierabend freuten. Obwohl er wußte, daß es absurd war, ärgerte er sich über das fröhliche Geplapper.
Er verließ den Fahrstuhl und ging den Flur entlang in Richtung Intensivstation. Je mehr er sich seinem Ziel näherte, desto nervöser wurde er. Irgendwie hatte er eine ungute Vorahnung. An der Tür zum Warteraum blieb er stehen und sah nach Tracy. Sie hatte kurz nach Hause gehen wollen, um sich frisch zu machen und neue Sachen anzuziehen.
Er entdeckte sie auf einem Stuhl in der Nähe des Fensters. Beinahe im gleichen Augenblick erblickte sie ihn und stand auf.
Sie kam auf ihn zu, und er sah, daß sie weinte. Tränen liefen ihr über die Wangen.
»Was ist los?« fragte er bestürzt. »Ist etwas passiert?« Einen Augenblick brachte Tracy kein Wort heraus. Kims Frage löste
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