Tränen der Lilie - Die Kristallinsel (Dreamtime-Saga) (German Edition)
müssen pünktlich
sein. Nahla erwartet uns.«
Sie begaben sich die wenigen
Schritte des Abhangs hinauf und Malee griff nach einem Seil neben dem
verschlossenen Eingangstor, das die silberne Glocke über dem Torbogen zum
Erklingen brachte. Kurz darauf erschien ein Mönch. Seine safranfarbene Kutte
leuchtete im heißen Sonnenlicht, als er sich freundlich verbeugte, um sie mit
dem Waigruß zu begrüßen.
Danach führte er sie durch eine
Vorhalle. Unzählige Stufen führten abwärts zu einem Seitenhof im Inneren. Von
dort gelangten sie auf eine schattige Terrasse, die den Blick in das Tal eines
üppigen, saftig grünen Gartens freigab.
»Unglaublich«, murmelte Michael
in Amys Ohr und bestaunte die in einigem Abstand liegenden kleinen Wohnhäuser,
die am Rande des Tals standen.
»Es sieht wirklich so aus, als
wenn der Eingang mitten in den Baum gebaut wurde.« Still schmiegte Amy sich an
Michaels warmen Körper und bewunderte den Ausblick.
Die ganze Tempelanlage schien zu
schlafen und tatsächlich in einer Magie der Stille und des Schweigens zu ruhen,
das nur durch das Zwitschern der Vögel und der Zikaden unterbrochen wurde.
Sébastien stand, wie immer
bemüht, seine Emotionen zu verbergen, an einer steinernen Säule gelehnt und
starrte ausdruckslos in den Garten. Dieser Ort schien wirklich etwas Magisches
zu an sich zu haben. Er merkte, wie sein Geist von einem seltenen, inneren
Frieden erfüllt wurde, den er schon lange nicht mehr verspürt hatte.
Hier lag nichts Böses in der
Luft, keine kalten Wesen, keine Werwölfe, nur das Geräusch einer über
zweihundert Jahre alten Stille.
Trotzdem - oder gerade darum -
wollte er nicht hier sein. Es machte ihm Angst, sich seinen Gefühlen zu stellen.
Nein, er träumte sich auf die Terrasse seines Penthouses in Minnesota zurück, in
seinen Liegestuhl mit einem eisgekühlten Bier in der Hand. Stattdessen stand er
hier mitten im Dschungel und wartete auf das Auftauchen einer dubiosen Hexe. In
seinem Magen rumorte es.
»Es tut mir sehr leid, ich habe
mich verspätet.«
Der leise singende Klang einer
Frauenstimme vermischte sich mit der erhabene Stille dieses beeindruckenden
Ortes. Als er den Klang der Stimme vernahm, zuckte er erschrocken zusammen,
drehte sich blitzschnell um – und dann traf ihn der Schlag.
In diesem Moment wusste und
fühlte er, warum er nicht hier sein sollte. Malee ging respektvoll auf sie zu
und machte sie mit Amy, Michael, Milton, Jai und Calda bekannt. Sébastien schien
sie vergessen zu haben, oder sie übersah ihn absichtlich. Wohl in der Hoffnung,
dass er sich dann in Nichts auflöste.
Nahla drehte sich langsam in
seine Richtung und ihre Blicke begegneten sich. Eine Zeit lang stand er reglos
da, ließ nur seine Augen wie gebannt über ihren schmalen Körper schweifen. Sie
erschien ihm wie aus einer anderen Welt.
Nie zuvor hatte er eine schönere
Frau gesehen. Sie war fast zwei Köpfe kleiner als er. Langes, schwarzes Haar
schlang sich über ihren Rücken.
Der Wind blies eine seidige
Strähne in ihr Gesicht. Mit angehaltenem Atem bewunderte er ihre fein
geschwungenen Züge darin und ihre volle Lippen. Fasziniert betrachtete er das
Iban-Mal, dass ihre ganze rechte Gesichtshälfte einrahmte. Es zog sich vom
obersten Wangenknochen in filigranen floralen Ornamenten um die Schläfe bis über
die Mitte der Augenbraue. Die hauchzarten Linien hatten die gleiche
veilchenblaue Farbe wie ihre ausdrucksstarken Augen.
Sein Blick glitt weiter an ihrem
Körper hinunter. Unter ihrem rubinroten Sari, der auf der linken Seite
raffiniert geknotet war und ihre rechte Schulter freiließ, umfasste er ihre
kleinen Brüste und die schmale Taille. Ihre Haut glänzte wie geschmolzenes
Karamell. Jetzt legte sie ihre Handflächen in ihrer Körpermitte aneinander und
verbeugte sich leicht zu ihm.
»Sawadee. Ich bin Nahla.«
Sébastien war so sehr in ihren
Anblick versunken, dass er nicht wusste, was er erwidern sollte. Schließlich
trat Malee auf sie zu und ihre nervöse Stimme durchbrach den Bann. »Nahla - das
ist übrigens Sébastien.«
»Ja«, nickte Nahla und schenkte
ihm ein sanftes Lächeln, »ich weiß.«
Sie würde niemandem verraten,
dass sie seine Ankunft schon lange im Voraus vorhergesehen hatte. Sébastien war
das Ebenbild ihrer nächtlichen Visionen. Sie ignorierte den überraschten
Ausdruck auf seinem Gesicht und wandte sich den anderen zu.
»Malee sagte mir, dass Sie ein
paar Fragen
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