Tränen der Lilie - Die Kristallinsel (Dreamtime-Saga) (German Edition)
Einzug gehalten zu haben. Vom nahen
Wasserfall kam das Gelächter nackter Kinder, die dort spielten, und kurz darauf
erreichten sie die Pfahlhütte der Familie. Eine dickliche Frau mit
unordentlichen Haaren und einem finsteren Gesichtsausdruck saß auf den
wackeligen Holzstufen. Nach einem kurzen Wortschwall, den sie mit Nahla
wechselte, stand sie ächzend auf und bat sie unwillig herein.
Sébastien fing Nahlas warnenden
Blick auf, der ihn gerade noch rechtzeitig daran erinnerte, die Schuhe
auszuziehen und beim Betreten der Hütte nicht auf die Türschwelle zu treten. Das
brachte den Bewohnern Unglück.
Dann schob die dicke Frau die
orangen Perlenschnüre des Fliegengitters zur Seite. Im Innersten des
quadratischen Raumes war es dunkel. Rauchschwaden von Curry hingen in der
abgestandenen Luft und es roch nach Schweiß. Sébastien hielt sich dezent im
Hintergrund und überließ Nahla das Feld. Mehr blieb ihm auch gar nicht übrig.
Er war nicht in der Lage, auch
nur eine Silbe des nun folgenden Wortwechsels zu verstehen. Stattdessen lehnte
er sich mit verschränkten Armen gegen den Esstisch und beobachtete Nahla. Sie
begrüßte die Familie ehrerbietig und begann danach mit der Befragung.
Sein Blick streifte den
schlaksigen jungen Mann, der neben Nahla stand. Irgendwie machte er einen
gehetzten Eindruck. Stirnrunzelnd versuchte er sich in die Aura des Jungen
hineinzuversetzen. Entsetzt zuckte er zurück. Bilder flackerten durch seine
Gedanken – eine dunkle Gestalt … über ein Mädchen gebeugt … Schreie.
Das sah wie eine Vergewaltigung
aus, aber er konnte nicht erkennen, ob es sich um eines der drei Mädchen
handelte, dazu war die Vision zu verschwommen. Sébastiens Blick schwirrte umher
und blieb an einem verrosteten, alten Kinderbett hängen, das in einer
abgelegenen Ecke des einzigen Wohnraumes stand. An den Gitterstäben hing Wäsche
zum Trocknen und die Matratze ohne Laken war von undefinierbaren Flecken
übersät.
Der einzige etwas erfreuliche
Anblick war ein kleines Mobile aus bunten Bällen, das, an der Decke befestigt,
über dem Bettchen hing. Das Baby zwischen den Gitterstäben schrie sich die Seele
aus dem Leib, was jedoch keinen der mindestens sechs Familienmitglieder in
diesem Raum zu stören schien. Alle, die nicht mit Nahla sprachen, starrten
gebannt auf den großen Fernseher, der auf einem klapprigen Hocker stand. Alle
zwei Minuten erklang ein gackerndes Gelächter aus ihren Mündern.
Fassungslos beobachtete Sébastien
die Szenerie. Wie konnte ein Fernseher wichtiger sein als ein schreiendes Kind,
das getröstet werden wollte! Aufgebracht kniff er die Lippen zusammen und wandte
seinen Blick wieder zu Nahla. Sie hatte ihn vorher schon geimpft und ihm
Instruktionen gegeben, dass er als Farang nur geduldet war.
Also verhielt er sich ihr zuliebe
still und verkniff sich jeden erbosten Kommentar. Der Wortwechsel wurde
zusehends lauter und Sébastien, der noch immer kein einziges Wort verstand,
bemerkte doch die unterschwellige Aggressivität, die hauptsächlich von dem
älteren Jungen ausging.
Sein Körper spannte sich an,
bereit dazwischenzugehen. Doch dann spürte er Nahlas intensiven Blick und
verhielt sich ruhig. Sie sprach weiter mit dem Jungen, aber Sébastien fühlte,
wie sie ihm einen Gedanken zuwarf. Normalerweise konnten nur Seelengefährten
untereinander ihre Gedanken lesen.
Warum spürte er es jetzt bei ihr?
Mit einem kurzen Nicken, das nur Nahla bemerkte, erhob er sich vom Tisch,
steckte seine Hände in die Jeanstaschen und schlenderte scheinbar gelangweilt im
Raum herum, bis er die Haustür erreichte. Kurzentschlossen schlüpfte er durch
den orangen Perlenvorhang. Dann machte er einen Rundgang um das Haus. Der Garten
war verwahrlost, überall stapelten sich Mülltüten und sonstiger Unrat.
Dazwischen hing eine
durchhängende Wäscheleine mit geschmacklosen schrillgelben BHs. Cup 43dd
schätzte er mit geübtem Blick.
Damit gehörten sie eindeutig der
Mutter, dachte er entsetzt. Hastig versuchte er dieses geschmacklose Bild aus
seinen Gedanken zu verbannen. Nachdem er auch in dem kleinen Holzverschlag neben
der Hundehütte nichts entdeckt hatte, begab er sich wieder ins Innere des
Hauses. Dort spürte er, dass die Stimmung jetzt dramatisch gekippt war und sich
offene Aggression gegen Nahla breitmachte. Kurz darauf stand sie auf und nickte
ihm stumm zu.
Auf dem Weg nach draußen spürte
er nun offene Feindseligkeit.
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