Traenen des Kummers, Traenen des Gluecks
heutzutage. Die Eltern denken immer, dass ihre Kinder nichts anstellen könnten. Niemand übernimmt mehr Verantwortung.“
Sie sah ihn ungläubig an. „Sie kennen unsere Familie. Wir übernehmen immer die Verantwortung für das, was wir tun. Deswegen sind Justin und ich ja auch gerade hier. Aber ich finde nicht, dass Sie das Recht haben zu behaupten, dass er lügt.“
„Einhundertfünfzig Dollar.“ Offensichtlich war das nun Mr. Harpers letztes Wort.
Wut stieg in ihr auf. Was für ein verbitterter alter Mann. Sie ergriff Justins Hand und wandte sich zum Gehen. „Komm, Justin. Wir haben hier nichts mehr zu suchen.“
Als sie draußen waren, musste Nan sich auf die Unterlippe beißen, um ihrem Ärger nicht laut Luft zu machen. Sie eilte zum Wagen, und Justin lief mit hängenden Schultern neben ihr her. „Hast du gesehen, Mom? Man darf niemals etwas zugeben. Die Leute warten nur darauf, dich fertig zu machen.“
Sie warf ihm einen scharfen Blick zu. „Hör sofort auf“, fuhr sie ihn an. Wie konnte ein Elfjähriger schon so eine zynische Einstellung zum Leben haben? Seine Haltung jagte ihr Angst ein. „Du kannst Mr. Harper nicht vorwerfen, dass er dir nicht vertraut. Du hast schließlich das Gesetz gebrochen.“
„Das war doch keine große Sache.“
Sie sah ihren Sohn bestürzt an. „Wie bitte? Ich höre wohl nicht recht!“
Er zuckte die Schultern. „Wir sind doch nur Kinder, Mom.
Keine Waffen. Nichts. Einfach nur Kinder. Glaubst du nicht auch, dass die Cops Besseres zu tun haben, als sich mit Kindern abzugeben?“
Sie erstarrte. Wie abgebrüht Justin sich anhörte. Erneut machte sich Furcht in ihr breit. Sie kannte ihren eigenen Sohn nicht mehr. Nachdem sie im Wagen Platz genommen hatten, wandte sie sich Justin wieder zu. „Ich frage dich jetzt noch einmal: Hast du die anderen Fensterscheiben auch zerbrochen? Oder etwas davon gewusst?“
Justin schüttelte den Kopf, vermied es aber, seine Mutter anzusehen. „Ich schwöre es dir, Mom.“
Ihr Sohn belog sie: Sie unterdrückte die aufsteigende Wut, stellte den Motor an und fuhr los. „Du wirst Mr. Harper die Fensterscheiben bezahlen müssen.“
Er schaute seine Mutter an, als ob sie den Verstand verloren hätte. „Wie soll ich hundertfünfzig Dollar verdienen?“
„Ganz einfach: Du wirst dafür arbeiten.“
„Und wer wird mir einen Job geben? Ich bin noch ein Kind.“
Ja, das war eine gute Frage. Wer? Ganz bestimmt nicht Mr. Harper. Zu hoffen, dass Mr. Harper Justin in seinem Drugstore arbeiten lassen würde, war ziemlich naiv von ihr gewesen. „Lass dir was einfallen. In der Zwischenzeit hast du bis auf Weiteres Hausarrest.“ Natürlich war ihr klar, dass es keine Lösung war, Justin im Haus einzusperren, aber sie wusste einfach nicht mehr weiter. Sie hatte schon alles versucht. Sie war mit ihm zur Familienberatungsstelle gegangen und zu Psychologen. Nichts hatte genützt. Justin steckte in einer Krise, und er brauchte Hilfe, die sie ihm nicht geben konnte.
David hatte ihr seine Hilfe angeboten.
Aber was war, wenn Justin sich zu sehr an David gewöhnte? Was, wenn er emotional abhängig von ihm würde? Verflixt noch mal, David war Polizist. Genau wie Justins Vater, der bei der Erfüllung seiner Pflicht gestorben war.
Aber im Moment schien der Gedanke, dass Justin sich emotional an David binden könnte, weniger erschreckend, als die Gefahr, dass ihr Junge ihr ganz entgleiten könnte.
David saß auf einem Liegestuhl in der Sonne, hielt sich den Telefonhörer ans Ohr und lauschte dem Klingeln am anderen Ende der Leitung. Nan hatte auf seinen Anrufbeantworter gesprochen und sehr besorgt geklungen. Er hatte beschlossen, sie sofort zurückzurufen, und nicht bis heute Abend zu warten, wenn sie von der Arbeit wieder zuhause war.
„Marshall Field in Hilldale. Was kann ich für Sie tun?“ ertönte schließlich eine ihm unbekannte weibliche Stimme.
„Ich hätte gern Nan Kramer gesprochen“, erklärte er.
„Einen Moment. Bleiben Sie bitte in der Leitung. Ich verbinde Sie mit der Kinderabteilung.“ Wenige Sekunden später hörte er dann Nans vertraute Stimme. „Kinderabteilung. Was kann ich für Sie tun?“
„Nan? Hier ist David.“
„Danke, dass du so schnell zurückrufst. Ach, David, ich befürchte, dass das Problem noch größer ist, als wir denken.“
Es lag so viel Sorge in ihrer Stimme. Was war passiert? Was hatte Justin noch angestellt? „Was meinst du?“
„Ich kann jetzt nicht sprechen. Hier ist die Hölle los. Jede
Weitere Kostenlose Bücher