Traenen des Kummers, Traenen des Gluecks
sie war nicht sicher, wie Justin auf Davids Vorschlag reagieren würde. „Ich weiß es nicht. Vielleicht wird das Zusammensein mit dir schmerzvolle Erinnerungen in ihm wecken.“
Er lehnte sich mit einem besorgten Gesichtsausdruck vor. „Vielleicht ist es an der Zeit, sich diesen Erinnerungen zu stellen. Schließlich sind es gute Erinnerungen.“
Nan atmete tief durch. „Vielleicht. Aber Erinnerungen bringen auch Fragen mit sich, die man nicht beantworten kann, wie zum Beispiel: Warum musste sich alles ändern?“
Er strich ihr beruhigend über die Hand. „Ich…“
Sie sah ihn entschuldigend an. „Ich weiß dein Angebot wirklich sehr zu schätzen, David. Wirklich, das tue ich. Aber ich brauche Zeit, um über das alles nachzudenken.“
Er nickte verständnisvoll und ließ ihre Hand wieder los. „Du kannst mich morgen anrufen. Ich habe frei und werde zu Hause sein.“ Er setzte Sheba auf den Boden, nahm einen kleinen Block und einen Kugelschreiber aus der Brusttasche seines Hemdes und schrieb ihr seine Nummer auf. „Falls ich gerade im Garten arbeite, sprich mir einfach auf den Anrufbeantworter, ich werde dich dann zurückrufen.“
Sie nahm den Zettel entgegen und folgte ihm zur Tür. Er war hoch gewachsen, mit schmalen Hüften und breiten Schultern und bewegte sich wie ein Panter – kraftvoll und geschmeidig. Sie hatte vergessen, wie sehr David sie immer beeindruckt hatte, weil er so viel Kraft ausstrahlte.
Vor der Tür drehte er sich noch einmal um und schaute sie an. Erneut fiel ihr auf, wie warm sein Blick war. „Ich möchte nur helfen, Nan, aber wenn du entscheidest, dass ich mich von Justin fern halten soll, kann ich das auch verstehen.“
Etwas hielt sie davon ab, Davids Angebot anzunehmen. Wollte sie sich einfach nur nicht eingestehen, dass Justin diese Art von Hilfe brauchte? Oder wollte sie Distanz zu David halten, weil sie Angst hatte, zu sehr an die Vergangenheit erinnert zu werden? An Corry, an die schönen Zeiten, die sie miteinander verbracht hatten – und an die Tatsache, dass sie sich bereits früher öfter ermahnen musste, nicht zu lange auf Davids muskulösen Oberkörper oder in seine braunen Augen zu schauen? Sie hatte Corry von ganzem Herzen geliebt, aber hin und wieder war sie sich der Anziehung bewusst gewesen, die David auf sie ausgeübt hatte.
Er ist ja auch ein ungewöhnlich attraktiver Mann, hatte sie sich immer wieder beruhigt, es ist ganz normal, dass du so reagierst. Und glücklicherweise hatte Corrys tiefe Liebe und Zuwendung sie stets davon abgehalten, länger darüber nachzudenken. David war ihr gemeinsamer Freund. Sie hatte gewusst, dass sie ihn nicht als Mann sehen durfte, und sie hatte die Regeln immer eingehalten.
Sie wischte rasch diese Gedanken weg und erwiderte Davids Blick. „Ich werde darüber nachdenken, was das Beste für meinen Sohn ist.“
Er legte eine Hand auf ihre Schultern. „Es ist schwer für einen Jungen, zum Mann zu werden, wenn er keinen Vater als Vorbild hat.“
Seine warme Hand fühlte sich so gut, so vertraut an. David bot ihr die Wärme und Fürsorge, die ihr seit Corrys Tod entsetzlich fehlten. Erneut drohten Tränen aufzusteigen, und da sie Angst hatte, ihre Stimme könnte versagen, nickte sie nur.
Ein kleines ironisches Lächeln spielte um Davids Lippen. „Das Leben hat Justin ein paar schlechte Karten zugespielt. Ich kann es ihm nicht übel nehmen, dass er sie ausspielt.“ Dann wandte er sich abrupt ab und ging durch die Tür hinaus.
Nan schloss hinter ihm ab, schaltete im Wohnzimmer das Licht aus und ging zu Justins Zimmer hinauf.
Ihr Herz zog sich zusammen, als sie die schmale Gestalt im Bett liegen sah. Wie gern hätte sie jetzt ihren kleinen Jungen in die Arme gezogen, ihn gewiegt und ihm vorgesungen, bis er endlich in den Schlaf gefunden hätte. Aber diese Tage waren vorbei. Und mit ihnen auch die kleinen Probleme, die mit einem Kuss oder einer ermutigenden Umarmung gelöst werden konnten.
Sie setzte sich auf den Bettrand und strich ihm zärtlich über die schmale Schulter. „Gute Nacht, Justin. Wir werden morgen Früh weitersprechen. Jetzt schlafe dich erst einmal aus.“
Er gab ihr keine Antwort. Er lag einfach nur da. Ganz still.
Nie zuvor hatte ihr kleiner Junge so verwirrt und verlassen gewirkt.
Sie presste die Hand vor den Mund, um einen Schluchzer zu unterdrücken, und ging schnell in ihr eigenes Zimmer. Hastig schloss sie die Tür hinter sich und griff im Dunkeln nach dem Lichtschalter ihrer Nachttischlampe.
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