Tränen des Mondes
Auge des Zyklons vorübergezogen, und der Schrecken begann von neuem. Olivia verlor jedes Zeitgefühl, empfand nichts mehr, dachte an nichts mehr und spürte nichts weiter als die Wärme und Kraft von Tyndalls Körper. Tyndall dachte an die kleinen Logger auf See. Nur wenige würden die Katastrophe überstehen. Dank seiner Pflichtvergessenheit waren Ahmed, Yoshi und Taki nicht ausgelaufen, und er betete, daß der Sturm sie verschonte. Nur mit viel Gottvertrauen konnte er darauf hoffen, daß die Besatzung der
Annabella
Glück haben würde.
Als der Abend kam, ließ der Wind allmählich nach und zog dann vollends ab. Die Geräusche der Stadt, die sich wieder aufrappelte und aus dem Alptraum erwachte, hallten durch die Verwüstung. Olivia und Tyndall hielten sich im Dunkeln an den Händen, als sie sich durch Schutt und Schlamm ihren Weg zu Olivias Haus bahnten, ohne darauf zu achten, was rings um sie vor sich ging. Erst in Olivias Straße hörten sie Stimmen und das Knarzen von Holz und Scheppern von Blech, das von den Anwohnern weggeräumt wurde, die sich langsam eine Vorstellung vom Ausmaß der Schäden zu machen begannen. Der Abendhimmel war noch immer bewölkt. Im Dämmerlicht sah Olivia, daß ihr Gartenzaun fehlte, der Baum im Vorgarten entwurzelt war. Zu ihrem größten Entsetzen war jedoch auch ein Teil des Hauses von seinem Pfahlfundament gerutscht, und das halbe Dach war abgetragen. Sie erkannte sofort, welcher Teil des Hauses eingestürzt war.
»Das sind die Schlafzimmer. O mein Gott, nein …« Stolpernd und strauchelnd hastete sie ins Haus und schrie unablässig: »Hamish, Hamish, hier bin ich …«
Tyndall kletterte an ihr vorbei und rief im dunklen Haus nach Minnie. Rasch wandte er sich in alle Richtungen und schrie Olivia an, sie solle sich ruhig verhalten und die Ohren aufsperren.
Dann hörten sie es – ein schwaches »Mammi«, anschließend Minnies kräftige Stimme: »In große Schlafzimmer.«
Während sich Tyndall und Olivia in das Zimmer tasteten, das nun unter freiem Himmel lag, schien plötzlich ein Licht auf. Es flackerte unten auf dem Fußboden, und dort, unter dem großen, soliden Pfostenbett, guckten zwei Gesichter hervor, die von der Kerze in Minnies Hand erleuchtet wurden. Tyndall nahm die Kerze und half Minnie heraus, während Olivia Hamish an sich zog.
»Großes Bett nicht kann bewegen. Guter Platz, was?« Minnie grinste breit. Als sie sah, was während der Nacht alles im Haus zusammengestürzt war, murmelte sie: »Mann! Kein Wunder, so viel Krach.« Sie griff in ihre Schürzentasche und reichte Tyndall eine zweite Kerze und Streichhölzer. »Alles, was Minnie mitnehmen konnte«, erklärte sie.
Minnie stöberte Kuchen auf, machte eine Kanne Tee, und dann ließen sie sich alle im unbeschädigten Teil des Hauses nieder, um bis zum Morgengrauen zu schlafen.
In der ersten Morgendämmerung kroch Tyndall hinaus. Er fragte sich, wie es wohl Minnies Mann in ihrer kleinen Hütte bei Kennedy's Knoll ergangen war.
Tyndall war erschüttert über die Zerstörungswut des Zyklons, dabei hatte die Stadt nicht einmal seine volle Gewalt zu spüren bekommen. Tyndall machte sich als erstes auf zur Bucht und sah, daß ein Dutzend Perlenlogger, die in der Roebuck Bay Zuflucht suchen wollten, nur bis zur Landspitze am Eingang der Bucht gekommen waren, wo sie dann an den Felsen zerschellt oder vom Sturm ins Mangrovendickicht gefegt worden waren.
Die zurückfließenden Fluten hatten das Wasser in der Bucht braun verfärbt, an der Küste zog sich, so weit das Auge reichte, ein Saum von Treibgut entlang. Aus den Tiefen des Meeres emporgewirbelter Unrat, abgerissene Mangroven, Wrackteile von kleinen Beibooten und größeren Schiffen lagen in wirrem Durcheinander zwischen verstreuten Vorräten und toten Vögeln. Darunter immer wieder Leichen und die persönliche Habe von Seeleuten, Spuren der Zerstörung und des Todes.
Nach und nach kamen viele Erzählungen von heldenhaften Taten, von Überlebenden und tragischen Schicksalen auf: vom alten weißen Kapitän, dem seine malaiische Besatzung heroisch Beistand leistete, bis das Glück sie an Land spülte, von Schiffbrüchigen, denen die Kleider vom Leib gerissen wurden und die schreckliche Schmerzen litten, ja fast erblindeten, als der Sturm den Sand gegen ihre nackten Körper peitschte, von einem Muschelöffner, der von einem herumfliegenden Blech enthauptet wurde, von so vielen, die in den Fluten ertrunken waren.
Als Tyndall mit schwerem Schritt
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