Tränen des Mondes
Mädchen zu gründen, die in besondere Schwierigkeiten geraten waren. Die Schirmherrschaft hatte die Stadt übernommen, die für diesen Zweck eine Stiftung eingerichtet hatte; eine reiche Witwe hatte ein kleines Haus im Hafenbezirk von Fremantle zur Verfügung gestellt. Olivia bot ihre Mitarbeit im Spendenkomitee an, doch bald wuchs ihr Interesse an dem Projekt. Dr. Shaw bemerkte dies und fragte sie eines Tages, ob sie nicht beim Aufbau dieser Einrichtung für obdachlose Mädchen und junge Frauen in Schwierigkeiten mit ihm zusammenarbeiten wolle – »Sie wissen schon, wir kümmern uns um unverheiratete Mädchen, die schwanger sind.«
Dr. Shaw war fünfzehn Jahre älter als Olivia, ein gutaussehender Mann, schlank, mit silbergrauen Schläfen, einer leisen Stimme, einem warmherzigen Naturell und gütigen grauen Augen. Seine Praxis war bei den Frauen sehr beliebt, denn er gehörte zu den wenigen Ärzten, mit denen sie ungezwungen über ihre persönlichen Probleme reden konnten. Vor drei Jahren war nach langer Krankheit seine Frau gestorben. Die Ehe war kinderlos geblieben. Nach dem Tod seiner Frau war Dr. Shaw zu einem unermüdlichen Kämpfer für die Bedürftigen und Mittellosen geworden.
Nach einem Rundgang durch die zwielichtigeren Gegenden rund um den Hafen von Fremantle erkannte Olivia, wie dringend solche Mädchen einen Zufluchtsort nötig hatten. Junge Mischlingsmädchen – Aborigines und Asiatinnen – landeten auf der Straße, wenn sie ihren brutalen Arbeitgebern oder ihren gewissenlosen Männern davonliefen, die sie mißbrauchten, mißhandelten und ausnutzten. Solchen an Sklaverei grenzenden Lebensbedingungen zogen viele Mädchen das Herumstreunen und die Prostitution immer noch vor.
Olivia übernahm es, Seite an Seite mit Dr. Shaw in der Cantonment Street dieses Mädchenheim einzurichten, das von wenigen Mitarbeitern geführt werden sollte, darunter einer jungen Krankenschwester. Olivia bemühte sich darum, diese Zufluchtsstätte zu einem freundlichen zeitweiligen Zuhause zu gestalten, in dem man sich nicht wie in einer öffentlichen Anstalt fühlen mußte. Sie hatte andere wohltätige Einrichtungen besucht – ein Waisenhaus, ein Heim für schwer erziehbare Mädchen – und fand die Atmosphäre dort kalt und einschüchternd.
Olivia und Gilbert Shaw schlenderten durch das frisch gestrichene Haus, das Olivia zwar einfach, aber im Gegensatz zu den anderen tristen Institutionen in freundlichen Farben ausgestattet hatte.
Sie ließen sich in dem fröhlichen Eßzimmer nieder, und Olivia kochte Tee für sie beide; sie wußte inzwischen genau, wie sie ihn nach Gilberts Geschmack zubereiten mußte. Er lächelte sie über den Tisch hinweg an und dachte bei sich, was für eine angenehme Gesellschaft Olivia doch war. »In diesem Heim fühlt man sich wirklich wohl. Sie haben hervorragende Arbeit geleistet, Olivia.«
»Ich hatte viel Hilfe. Es kommt mir vor, als wären die anderen Heime absichtlich abschreckend. Eine verängstigte oder kranke junge Frau ginge dort sicher nicht freiwillig hin, da müßte sie schon sehr verzweifelt sein.«
»Dieses Heim ist nicht dazu gedacht, daß die Mädchen hier gemütlich in den Tag hinein leben können«, wandte Dr. Shaw behutsam ein. »Wir können ihnen nicht unbegrenzte Zeit ein Dach über dem Kopf, Nahrung, Kleidung und Fürsorge geben. Es ist kein offenes Haus.«
»Die finanziellen Zwänge sind mir klar«, erwiderte Olivia, »und ich teile Ihre Meinung, daß dieses Heim nicht als kostenlose Pension betrachtet werden darf. Doch wir müssen den Mädchen eine neue Zukunft geben und sie mit Rat und Hilfe auf ihrem Weg zurück ins Leben unterstützen.«
»Das ist nun Ihre Aufgabe, Olivia – dem Personal bei der Verwirklichung dieser Ziele zu helfen. Falls Sie bereit sind, diese Herausforderung anzunehmen.«
»Das möchte ich sehr gerne.«
Gilbert ergriff ihre Hand und drückte sie. »Das freut mich. Auch mich haben Sie wieder aufgemuntert, Sie sind eine prachtvolle Frau, Olivia. Ich bin sicher, gemeinsam werden wir vieles schaffen.«
Es gab keinen Hinweis darauf, daß diese Bemerkung persönlich gemeint war. Olivia bewunderte Gilberts feine Manieren und seine einnehmende Warmherzigkeit und hatte bemerkt, daß er alle Frauen mit Höflichkeit und Respekt behandelte.
Gilbert Shaw gab keine tieferen Gefühle zu erkennen und achtete darauf, daß er mit Olivia nicht anders umging als mit anderen Frauen, doch war ihm durchaus bewußt, daß sie etwas in ihm zum
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