Tränen des Mondes
kümmerten, außerdem arbeitete Minnie einen Teil ihrer Zeit für die Frau eines reichen chinesischen Kaufmanns. Einmal hatte Minnie eine Reise in den Süden nach Fremantle gemacht – ihre erste Dampferfahrt und ihr erster Besuch in einer größeren Stadt –, um ihre Tochter Mollie zu Olivia zu bringen, bei der sie in Dienst trat.
Die Kunde von Amys Ansprüchen, ihren Wutausbrüchen und unsinnigen Forderungen verbreitete sich über das Informationsnetz der Dienstboten bald in der ganzen Stadt. Die Einladungen versiegten, auch wenn die weiße Oberschicht und die Gattinnen der Perlenunternehmer stets höflich zu ihr blieben. Obwohl Amys explosives Temperament zu beklagen war, blieb sie doch eine von Ihnen.
Amys Langeweile verflog eines Tages, als sie allein im
Weißen Lotus
essen ging, einem blitzsauberen, kleinen Restaurant, das von einem fröhlichen chinesischen Ehepaar namens Junie und Henry Wang betrieben wurde. Die Perlenunternehmer und ihre Frauen waren oft dort anzutreffen, wie auch die Taucherelite. Das belebte, gemütliche Lokal hatte einen guten Ruf, allerdings war spätabends aus dem Hinterzimmer und den Räumen im Obergeschoß der Lärm der Spielhöllen zu hören, in denen erkleckliche Summen, Goldmünzen und manchmal sogar Perlen gewonnen und verspielt wurden.
Auch wenn es ungewöhnlich war, daß eine weiße Dame alleine speiste, wurde Amy von niemandem belästigt. Während sie auf das Essen wartete, blätterte sie in einem Katalog, der mit dem letzten Dampfer gekommen war und die neueste Londoner Mode zeigte, wenn auch die vom letzten Jahr. Sie beschloß, sich ein neues Kleid schneidern zu lassen, mochte es in Broome auch wenig Gelegenheiten geben, sich fein herauszuputzen. Doch ein neues Kleid würde ihre Laune heben.
Sie schnitt die kleinen Teigtäschchen auf ihrem Teller durch und kostete die Füllung aus Schweinefleisch und dicker süßer Soße. Nach einem erfolglosen Kampf mit den Stäbchen wechselte sie zu Löffel und Gabel.
Der Kellner stellte ein weiteres geflochtenes Körbchen vor sie hin, in dem zwei knusprige Teigdreiecke mit würziger Gemüsefüllung im Dampf gegart waren. Sie beendete ihr Mahl mit kleinen Würfeln süßen Bohnenquarks, goß sich aus einer Kanne den letzten Rest chinesischen Tee ein und blickte sich satt und zufrieden um. Es war noch nicht Essenszeit, der Speiseraum war leer bis auf ein japanisches Paar, einen älteren Chinesen, der Suppe aus einem Schälchen schlürfte, und einen Weißen, der in eine Zeitung vertieft war.
Amys Blick blieb an dem Mann hängen, der plötzlich seine Zeitung weglegte und sie mit amüsiertem Blick ganz unverhohlen betrachtete. Er faltete seine Zeitung zusammen und nickte ihr zu. Die höfliche Geste wirkte bei diesem ungewöhnlichen Mann sonderbar unpassend. Er hatte einen dunklen Teint, seine ungebändigten schwarzen Haare glänzten ölig, ebenso sein Schnurrbart. Die dunklen, buschigen Augenbrauen waren in der Mitte beinahe zusammengewachsen, seine dunklen, eindringlichen Augen verliehen ihm das Aussehen eines wilden Piraten. Er trug einen Gehrock von europäischem Schnitt und einen Seidenschal, der um den Hals zu einem Knoten geschlungen und in den Kragen eines weißen Hemds eingesteckt war. Als er die Hand hob, sah Amy daran einen großen, diamantbesetzten Goldring aufblitzen.
Sie lächelte kurz und vertiefte sich dann gleich wieder in ihren Katalog.
Als er das Lokal verließ, ging er dicht an ihrem Tisch vorbei, eine Spur kräftigen Zigarrengeruchs wehte ihm nach.
Amy dachte nicht weiter an den Mann, als sie eine Stunde später in einem kleinen Laden vor einigen Stoffballen stand, deren Bahnen sich wie bunte Seidenflüsse vor ihr ergossen. Sie hob mehrere Stoffe auf und hielt sie an sich hoch.
Die Japanerin hinter der Theke gab dazu beifällige Geräusche von sich, die wie Vogelgezwitscher klangen. »Sehl hübsch, sehl gute Kimonoseide, das. Macht hübsches Kleid.«
»In der Tat«, dröhnte eine Stimme hinter ihr.
Amy wirbelte herum.
»Nochmals guten Tag, Madam!« Der Mann aus dem Restaurant lüftete mit einer übertriebenen Geste den Hut.
Er war kleiner, als Amy gedacht hatte, aber muskulös gebaut, in einem Kampf würde er zweifellos seinen Mann stehen. Sie bemerkte die dünne weiße Narbe, die sich über eine seiner Wangen zog. Seine amüsierte Großspurigkeit und sein Äußeres wirkten auf sie eher anziehend als abstoßend.
Die Verkäuferin verbeugte sich nickend und plapperte etwas auf japanisch, dann winkte sie ihn zu
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