Tränen des Mondes
Aussicht auf den Sonnenuntergang. Mein Mann und meine Tochter sind beim Musikunterricht. Und ich habe nur nach einem Vorwand gesucht. Übrigens, ich heiße Deidre.«
Sie zogen sich zwei handgedrechselte Sessel mit Sitzflächen aus geflochtenem Leder heran. Deidre schenkte den Wein in zwei schwere Kelchgläser und stellte die Flasche auf dem Geländer ab. Dann lehnte sie sich in ihrem Sessel zurück und legte die Füße neben die Flasche auf das Geländer. »Also, was führt Sie in diese Gegend? Sie sehen nicht wie eine Touristin aus. Genaugenommen sehen Sie fast wie eine Einheimische aus.« Sie spielte auf die Jasminblüten an, die Lily sich in das offene Haar gesteckt hatte, und auf ihr loses, hawaiisch anmutendes Kleid.
Lily nippte an ihrem Wein. »Ich habe angefangen, mir Fragen über mich selbst zu stellen, und einige Antworten werde ich vermutlich hier in Broome finden. Nicht, daß ich etwa schon weit gekommen wäre.« Lily machte eine kleine Pause. »Tut mir leid, wenn das jetzt irgendwie rätselhaft klingt.«
»Klingt eher nach Scheidung.«
»Eigentlich nicht. Aber meine Mutter ist vor einer Weile gestorben. Das setzte die Spurensuche in Gang. Ich tue es für mich, für sie, für meine Familie, für mein weiteres Leben … und so.«
»Die meisten von uns kommen irgendwann in ihrem Leben an diesen Punkt. Einige ignorieren das und machen einfach weiter wie bisher, andere vollziehen eine dramatische Wende oder betreiben das, was Sie gerade machen – Spurensuche.«
»Ich habe alle drei Phasen durchgemacht«, bekannte Lily.
»Das ist doch gut so. Der Prozeß kann sehr schmerzhaft sein, aber man geht wie erneuert daraus hervor und mit einer anderen Einstellung zum Leben. Man bekommt ein neues Selbstwertgefühl, und nach und nach regelt sich alles von selbst.« Deidre füllte ihre Gläser nach. »Lassen Sie es einfach geschehen, jagen Sie nicht den bunten Schmetterlingen nach. Hier bei uns im Norden, an diesem irgendwie verrückten Ort, haben die Dinge eine merkwürdige Art, sich zum Guten zu wenden.«
Die untergehende Sonne hatte die Weinflasche erfaßt, das grüne Glas sprühte goldgelbe Funken. Die beiden Frauen waren sich auf Anhieb sympathisch und plauderten unbefangen, wie Frauen oft spontan den richtigen Kontakt zueinander finden. Männern ist diese Art des offenen Umgangs eher fremd, für Frauen ist dieser Austausch aber eine ganz natürliche Sache mit einem besonderen Stellenwert.
Lily trank ihren Wein aus und erhob sich. »Herzlichen Dank für die Einladung zum Sonnenuntergang. Das war wirklich sehr nett von Ihnen. Ich denke, ich werde mich mal in der Stadt umsehen und irgendwo einen schönen Fisch essen. Was würden Sie mir empfehlen?«
»Das
Noshi
, gleich neben dem
Pearl Palace
«, schlug Deidre vor. »Übrigens, am kommenden Donnerstagabend werde ich eine Ausstellung im Cable Beach Club eröffnen. Hätten Sie Lust zu kommen?«
»O ja, gerne. Wer stellt aus?«
»Rosie Wallangou. Ich werde eine Einladung für Sie im Hotel abgeben. Wie ist denn Ihr Nachname?«
»Barton. Lily Barton.« Sie schlüpfte in ihre Sandalen und ging die Verandatreppe herunter.
»Nehmen Sie die Schotterstraße hinten um die Stadt herum, das ist eine Abkürzung«, rief Deidre hinter ihr her. »Sie fängt gleich hinter Kapitän Tyndalls Haus an.«
Lily wandte sich um. »Und wo ist das?«
»Einfach die Straße hoch, am Steilufer. Großartiges altes Haus. Einen schönen Abend noch, und lassen Sie sich's schmecken.«
Lily stand im Dämmerlicht vor dem herrlichen alten Kolonialhaus, das genau über der Bucht lag. Breite Veranden liefen um das Haus, riesige Jasminbäume und üppige Bougainvilen zogen sich bis über das Dach. »Mein lieber Kapitän Tyndall«, dachte Lily bei sich, »Sie haben sich das schönste Plätzchen ausgesucht und gewußt, wie es sich leben läßt.« Sie war hingerissen von dem Anwesen und der atemberaubenden Aussicht und fragte sich, ob Kapitän Tyndall, wer immer er auch gewesen sein mochte, auf dieser Veranda gesessen und das friedliche Panorama der Bucht mit ihren Mangroven, Kanälen und glitzernden Wellen genossen hatte.
In der Ferne zog ein einsames Segelboot vorbei.
Lily setzte ihren Weg in die Stadt fort, fand ein nettes Gartenlokal und aß im Freien bei flackerndem Kerzenlicht. Sie war daran gewöhnt, als Frau allein essen zu gehen und genehmigte sich ein Drei-Gänge-Menü. Zwischendurch plauderte sie mit der netten jungen Kellnerin, einer Dänin, die hier in den Ferien jobbte.
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