Tränen des Mondes
ehemaligen Muschelschuppen die Perlengeschäfte aneinanderreihten. Sie bog in eine kleine Gasse ein und fand sich unversehens in Chinatown, dem alten Chinesenviertel mit seinen verwinkelten Gäßchen, den dunklen, engen Läden und Eßlokalen – en einer bewegten Vergangenheit. Lily kam am alten Roebuck Hotel vorbei. Im Pub war nicht viel los, eine Gruppe Aborigines hockte im Schatten neben dem Eingang. Trotz des bunten touristischen Anstrichs der Stadt blieb die Vergangenheit überall gegenwärtig, und Lily sog die Atmosphäre in sich auf wie ein Schwamm.
An diesem Abend beschloß Lily, auf einen Drink ins Mangrove Hotel zu gehen, das hoch über der Roebuck Bay lag. Sie wollte den herrlichen Ausblick bei Sonnenuntergang genießen und dann in einem Lokal zu Abend essen.
Sie spazierte durch den Bedford Park, vorbei an den verrosteten Waggons der Pferdebahn, die ehemals zum
Streeter's Jetty
fuhr, und am Denkmal für den großen William Dampier, das eine Seekiste darstellte, die er bei seinem ersten Besuch bei sich gehabt haben soll. Lily verweilte einen Moment, um die Gedenktafel für den unerschrockenen englischen Piraten und späteren Entdecker und Forscher zu lesen, der 1688 mit seiner
Cygnet
an der Nordküste von ›Neuholland‹ gelandet war. Sie überquerte die verlassene Uferstraße und blieb vor einem weitläufigen Holzhaus im Kolonialstil stehen, das sich unter seinem Schrägdach zu ducken schien und von prächtigen Bäumen mit tief herabhängenden Zweigen flankiert wurde. Die breite Veranda wurde auf drei Seiten von Gitterwerk umschlossen. An dem weißgestrichenen Lattenzaun hing ein Schild mit der Aufschrift GALERIE .
Lily blieb stehen. Die Türen zur Veranda standen weit offen. Sie ging durch den sandigen, von Blättern bedeckten Vorgarten und betrat die Holzveranda. Der zu den privaten Räumen führende Bereich war durch kunstvoll geschnitzte indonesische Holzwandschirme abgegrenzt. Lily wandte sich einer der offenen Türen zu und trat in einen großen, hellen Raum mit hoher Decke, in dem sich offenbar die Ausstellung befand. Unter den weißgestrichenen Deckenbalken drehten sich Ventilatoren. Zeitgenössische Aboriginemalerei, Aquarelle mit einheimischen Landschaften oder Meeransichten und märchenhafte Unterwasserszenerien schmückten die Wände. An Stellwänden hingen fein ausgearbeitete, exquisite Radierungen von Pflanzen und Reptilien.
Vom Meer wehte eine leichte Brise herüber. Lily wähnte sich allein in der Galerie, da kam eine kleine schlanke Frau mit kastanienbraunem Lockenkopf und hellem Teint herein, die meterlange Bahnen handbemalter Seide auf den Armen trug. Sie trug einen Sarong mit passendem Baumwollmieder, dazu Ledersandalen. »Hallo«, grüßte sie fröhlich. »Etwas spät für einen Galerienbummel, ich wollte gerade schließen.«
»Tut mir leid«, entschuldigte sich Lily. »Ich kam zufällig vorbei und sah das Schild … und die Tür war offen … wenn es gerade nicht paßt …«
»Aber ich bitte Sie!«, unterbrach sie die Frau und hängte die Seide über einen Ständer. »Lassen Sie sich ruhig Zeit. Übrigens, das alles hier sind Arbeiten von ansässigen Künstlern.«
Lily sah sich um. »Sie haben wunderbare Sachen hier. Und die richtigen Räumlichkeiten dafür. Das Haus ist wohl ein alter Besitz. Wer hat es bewohnt?«
»Ja, früher hieß es
Imata's Store
. In diesen alten Holzhäusern läßt es sich sehr angenehm wohnen. Die Neubauten mit ihren Klimaanlagen passen nicht in diese Gegend. Man braucht keine Klimaanlage, wenn man vernünftig baut.«
Lily blickte durch die große offene Doppelglastür auf die Bucht, über der jetzt die Sonne unterging. »Wie ruhig und friedlich es hier ist.«
Die Frau trat zu Lily und betrachtete den Sonnenuntergang. »Ja, ich habe es nie bedauert, daß ich hierhergezogen bin.« Sie warf Lily einen vielsagenden Blick zu. »Eine Menge geschiedener Frauen wie ich kommen hierher. Sehr heilsam.«
Lily musterte die Galeriebesitzerin. Sie schien Mitte bis Ende Dreißig und strahlte eine heitere Gelassenheit aus. »Fühlen Sie sich hier nicht manchmal einsam?«
Die Frau lachte leise. »Ganz und gar nicht. Ich hab's wie meine Freundinnen gemacht und wieder geheiratet. Einen jüngeren Mann. Sind Sie alleine hier?«
»Ja.«
»Wo wohnen Sie?«
»Die Straße runter im ›Conti‹. Ich wollte zum Mangrove Hotel und mir den Sonnenuntergang ansehen.«
»Darf ich Sie zu einem Glas Wein auf meiner Veranda einladen? Von da haben wir eine perfekte
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