Tränen des Mondes
Sag mir, daß du nie aufgehört hast, mich zu lieben. Ich weiß es sowieso.«
Olivia tauchte ab, um sich seinen Worten zu entziehen. Ein paar Sekunden später kam sie wieder hoch und begann aufs Ufer zuzuschwimmen. Tyndall holte sie mit ein paar mühelosen Zügen ein.
Hartnäckig fuhr er fort: »Dann sag mir, daß du mich nicht liebst, Olivia. Schau mich an und sag es mir, dann plage ich dich nicht länger.«
Sie streifte mit den Zehen über felsigen Untergrund, wirbelte herum und funkelte ihn böse an. »Ich … ich ….« Wütend und verwirrt wich sie seinem Blick aus, stolperte aus dem Wasser und stürzte auf die Knie. Tyndall fing sie in seinen Armen auf und fiel mit ihr auf den Strand.
»Aua«, sagte er, als er mit dem Kopf auf dem groben Sand aufschlug, doch er lockerte seinen Griff nicht im geringsten. Sie lag auf ihm, und er hielt sie an sich gepreßt, ihre Gesichter berührten einander beinahe, und er grinste sie schamlos an. »Du kannst es mir nicht ins Gesicht sagen, was, Olivia?«
»Ich bin hingefallen«, klagte sie schwach.
»Jetzt kannst du nicht mehr davonlaufen, mein Liebling.« Sanft zog er ihr Gesicht zu sich herab. Sie nahmen das Wasser nicht mehr wahr, das über sie schwappte, die Felsbrocken, die unter ihnen im Sand lagen. Ihre Lippen, ihre Herzen und ihre Körper wurden eins, als wären sie nie zwei Menschen gewesen, die durch so viele Hindernisse so lange getrennt waren.
Am folgenden Tag beschlossen sie im Überschwang ihrer Liebe und vor lauter Begeisterung und ausgelassener Lebensfreude, daß sie gemeinsam tauchen wollten. Der Schoner war mit zwei neuen Motorpumpen und Taucheranzügen ausgestattet.
»Also gut, warum nicht!« nahm Olivia die Herausforderung an.
Bevor sie ihre Helme zuschraubten, gab Tyndall ihr rasch noch einen Kuß. »Nicht nervös werden. Ich bin direkt neben dir.«
Trotzdem hatte sie Herzklopfen, und der starke Luftstrom zeigte ihr an, daß sie aus nervöser Anspannung zu heftig atmete. Doch als sie einmal auf dem Boden stand, den Luftdruck reguliert hatte und Tyndalls vertrauenerweckende Gestalt neben sich sah, entspannte sie sich. Er streckte ihr seine behandschuhte Hand entgegen, und sie spazierten im Gleichschritt los.
Der Zauber der fremdartigen Unterwasserwelt schlug Olivia ein zweites Mal in seinen Bann. Die geheimnisvolle Schönheit der Pflanzen, die kühne Korallenarchitektur, die bunten Fische, die auf Beutesuche dahinflitzten, die langsamen Bewegungen der Krustentiere und Korallen erweckten in ihr den Eindruck, als betrachte sie vom Weltraum aus einen winzigen Planeten. Immer wieder machten sie sich gegenseitig auf Merkwürdigkeiten aufmerksam und wechselten durch die Glasscheiben ihrer Helme ein entzücktes Lächeln. Olivia hatte das seltsame Gefühl, daß sie sich am Anbeginn der Zeiten befand, daß für sie und Tyndall die Liebe geboren wurde, daß sie zwar durch die Nabelschnur ihres Luftschlauchs mit der realen Welt über ihnen verbunden waren, daß aber auch sie beide durch einen unsichtbaren, wassergleichen Kleber aneinandergekittet waren. Unter dem Wasser lag ein eigenes Reich, eine Fluchtmöglichkeit in eine andersartige Welt, in der man den menschlichen Alltag hinter sich lassen konnte. Tyndall hatte schon immer die Anziehungskraft gekannt, die diese Unterwasserwelt auf Menschen eines bestimmten Schlags ausübte. Auf Männer, denen es nichts ausmachte, ganz allein auf sich und ihre ureigenen Kräfte angewiesen zu sein, die die Einsamkeit der Arbeit unter Wasser verkrafteten. Viele konnten es nicht ertragen, stundenlang allein auf dem Meeresgrund zu arbeiten, und wurden von Panikanfällen und Platzangst heimgesucht.
Ein großer, grellbunter Fisch mit Augen, die in allen Regenbogenfarben schillerten, stupste gegen Olivias Helm, spähte sie neugierig an und brachte sie zum Lächeln. Dann nahm Tyndall ihre Hand, legte seine Finger an ihren Helm und bedeutete ihr, ganz stillzuhalten. Ein Schatten verdunkelte das Wasser, und Tyndall deutete langsam nach oben. Über ihnen glitten zwei Teufelsrochen vorüber, von denen jeder fast eine Tonne wog und an die sieben Meter Spannweite hatte. Träge schwammen sie dahin und schwangen ihre fledermausartigen schwarzen Flossen auf und ab wie in einem Ballett. Weiße Bäuche blitzten auf, der Blick fiel kurz auf verhornte Unterkieferknochen und den wie eine Peitsche herabhängenden, rasiermesserscharfen Schwanz. Und weg waren sie. Tyndall wußte, wie furchtbar Angriffe von Teufelsrochen sein konnten. Er
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