Tränen des Mondes
kannte Geschichten von Tauchern, die von den mächtigen Rochenflügeln hochgerissen wurden, Atemschläuche wurden von den Schwänzen oder den riesigen knirschenden Kiefern in Stücke zerfetzt. Auf der Jagd nach Fischen konnten sie dicht bei einem Logger in die Höhe schnellen, laut wie ein Donnerschlag platschten sie dann auf dem Wasser auf, wenn sie wieder abtauchten, zu mehreren waren sie ein mächtiger Feind. Doch Olivia fand ihren Anblick faszinierend, sie gehörten zu den wunderbaren Eindrücken, über denen sie ihr Zeitgefühl verlor. Olivia und Tyndall beobachteten, wie sich eine Krake an eine Garnele heranpirschte und sie verschlang. Als Tyndall ihr mit seinem Stiefel einen Tritt gab, spritzte sie eine Tintenwolke hervor und wallte davon. Sie stapften durch dichte Gräser, die alle in Richtung der Strömung wehten, und durch Plantagen seltsamer Meerespflanzen.
Als Tyndall das Zeichen zum Aufstieg gab, fügte sich Olivia nur widerstrebend, doch dann schwebten sie langsam und gleichzeitig empor, jeder auf einer Seite des Schiffs. Olivia tauchte auf, und man half ihr die Leiter hoch. Als ihr Helm aufgeschraubt wurde und sie ihren ersten Zug frischer Luft einatmete, empfand sie eine seltsame Niedergeschlagenheit. Welches war die wirkliche Welt? Dort unten waren Tyndall und sie sicher und unbeobachtet in ihrer Zweisamkeit. Jetzt wurde sie wieder mit der Wirklichkeit konfrontiert und saß stumm an Deck bei einer Tasse Tee, während Tyndall sich umzog und dann die Besatzung mit Geschichten über Teufelsrochen ergötzte.
Als sie zwei Tage später nach Broome zurückkehrten, kam Olivia die Zeit unter Wasser, ihre Zeit mit Tyndall, vor wie ein Traum. Sie nahm sich vor, so zu tun, als wäre nichts passiert, als wäre das Wiederaufflammen ihrer Leidenschaft nur ein Rückfall, den der Zauber des Moments ausgelöst hatte. Doch im Schutz von Olivias Haus trafen sie sich wieder abends zum Drink und fielen einander in die Arme. Vor dieser überwältigenden Liebe und Leidenschaft mußte Olivia kapitulieren. Sie schob ihre innige, aber schwunglose Beziehung mit Gilbert ganz an den Rand ihres Bewußtseins. Tyndall beherrschte sie, verschlang sie mit Haut und Haaren, riß sie einfach mit sich.
Sie redeten vom geplanten Probelauf ihrer Zuchtperlenfarm, von Mayas Arbeit für das Unternehmen, von Georgie, die bald die Schule besuchen würde, von Reisen nach Europa, wo sie neue Märkte für Perlmutt aufspüren wollten.
»Weißt du, daß man im Krieg begonnen hat, Perlmutt als Deckblatt für Kompasse einzusetzen? Es muß nicht immer nur zu Knöpfen verarbeitet werden«, sagte Tyndall.
»Glaubst du wirklich, daß Plastik Perlmutt ganz verdrängen könnte?«
»Wir machen gerade eine Durststrecke durch. Die Lage wird sich bessern, du wirst schon sehen. Broome ist noch nicht am Ende.« Tyndall beugte sich vor, gab ihr einen Stups auf die Nase und küßte sie rasch.
Wie verschieden Tyndall und Gilbert doch waren, dachte Olivia. Gilbert war immer sehr ausgeglichen, sachlich, bedächtig abwägend und auf seine Art liebevoll. Olivia hatte sich zwar ganz ihrer gemeinsamen Arbeit verschrieben, erkannte jetzt aber, wie sehr sie die Aufregungen der Perlenfischerei vermißte. Die Gefahren, die Unberechenbarkeit, die eigenwilligen Charaktere, das unbändige, fast berauschende Leben an der Nordwestküste. Kein Wunder, daß diese Gegend solche Menschen anzog. Menschen wie Tyndall.
Einstellung und Lebensstil von Tyndall und Gilbert waren so verschieden wie Tag und Nacht. Dennoch hatten beide gute und weniger gute Eigenschaften. Unbewußt teilte Olivia den beiden Plus- und Minuspunkte aus. Tyndall hatte wirklich seine Fehler, Gilberts Schwächen waren etwas weniger schwer zu ertragen, doch wenn Olivia ehrlich war, gab es für sie zwischen den beiden Männern keine ernsthafte Wahl. Tyndall übte emotional wie körperlich eine magnetische Anziehung auf sie aus. Er war die Liebe ihres Lebens, und paradoxerweise verfluchte sie ihn dafür.
Sie gingen am Ufer entlang, nachdem die Männer ihre Arbeit in den Schuppen beendet hatten. Tyndall nahm Olivias Hand und sagte schlicht und ergreifend: »Also. Was machen wir jetzt?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete sie kläglich.
»Aber ich. Wir bleiben zusammen … das hat das Schicksal so für uns bestimmt. Du mußt es ihm sagen. Du kannst nicht mit einer Lüge leben.«
»Gilbert war so gut zu mir …«
»Meine liebste Olivia … wenn er so anständig ist, wie du sagst, dann will er nur dein
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