Tränen des Mondes
Sippe, erzählte davon, wie die Geister des Meeres und die großen Meeresvögel ihre Botschaften von Land zu Land trugen und so den Zusammenhalt der Sippe wahrten. Obwohl er nicht alle Worte verstand, erkannte Tyndall die Botschaft: Daß räumliche Trennung nie die Bande zerstören konnte, die eine Sippe über Generationen zusammenhielten. Er sah in Niahs tränennasses Gesicht, als der Tanz endete. Auch sie hatte nun verstanden, was Gemeinschaft und Zusammengehörigkeit bedeuteten, und er war froh darüber.
Nach sechs Wochen auf See lief die
Shamrock
in Broome ein. Niah stand kurz vor der Niederkunft, also hatte Tyndall beschlossen, der Flotte vorauszufahren und zum Hafen zurückzukehren.
Zwei Tage später wurde Olivia zu früher Morgenstunde von Ahmeds Hämmern an der Tür aus dem Schlaf gerissen.
»Mem, Niah Baby kommen. Nix Hebamme finden. Tuan sagen, Sie schnell kommen.«
Olivia streifte sich rasch etwas über, bat Conrad, auf Hamish aufzupassen und fuhr mit Ahmed im Sulky zu Tyndalls Haus. Als Ahmed sich wieder aufmachte, eine Hebamme zu suchen, riet Olivia ihm: »In Kennedy's Camp gibt es eine Aborigine, die bei Geburten hilft. Sieh zu, daß du sie findest.«
Im Schlafzimmer fand sie Tyndall, der besorgt mit einem Glas Rum in der Hand auf und ab lief, während Niah auf dem Bett stöhnte.
»John, Sie können hier nichts tun. Bitte warten Sie draußen auf der Veranda«, sagte Olivia streng.
»Wie Sie meinen.« Er war froh zu entkommen.
Niah hatte sich mühsam erhoben und versuchte, sich Erleichterung zu verschaffen, indem sie im Zimmer auf und ab ging. Olivia wollte, daß sie sich wieder hinlegte, aber sie zog es vor, sich in der Hocke hin und her zu wiegen.
Da traf die Hebamme Minnie ein. »Ahmed mich holen«, erklärte sie schlicht.
Olivia nickte. Sie war erleichtert. Die Aborigine strahlte solche Kraft und Ruhe aus.
Minnie beugte sich über Niah und sprach ein paar murmelnde Worte. Niah griff nach ihrer Hand, antwortete ihr in ihrer Sprache und brachte ein kleines Lächeln zustande.
Wenige Minuten später begann das Baby, sich seinen Weg auf die Welt zu bahnen. Niah bestand darauf, in der Hocke zu bleiben, und die Aborigine nickte zustimmend.
»Na gut, wenn sie es so haben will, darüber können wir jetzt nicht streiten«, meinte Olivia. Minnie stellte sich hinter Niah, schlang die Arme um sie und gab ihr Halt. Niah bot all ihre Kraft auf, keuchte und preßte, und schon glitt das Baby in Olivias Hände.
Olivia durchtrennte die Nabelschnur und hob das Baby auf, während Minnie die Plazenta herausdrückte und Niah dann aufs Bett half. Olivia säuberte das Baby, wickelte es in ein Baumwolltuch und zeigte es Niah. Sie lächelte zufrieden, sank dann in die Kissen zurück und schloß die Augen, um sich von der Anstrengung zu erholen.
Olivia trat mit dem Baby im Arm auf die Veranda, wo Tyndall immer noch ruhelos auf und ab ging.
»John, es ist geschafft. Alles ist gut.«
Er wandte sich um und sah Olivia mit dem Baby auf dem Arm im hell erleuchteten Türrahmen stehen.
»Junge oder Mädchen?« fragte er mit zitternder Stimme und stürzte an ihre Seite.
»Sie haben eine wunderschöne Tochter.« Olivia legte ihm das winzige Bündel in die Arme und schob das Tuch beiseite, damit er besser sehen konnte.
»Meine Güte, Olivia! Sie ist ein Juwel!«
Olivia spürte einen Kloß im Hals. »Gehen Sie zu Niah, John.«
Tyndall hatte nur noch Augen für das Kind in seinem Arm und verschwand ohne eine weiteres Wort im Haus. Olivia blickte ihm nach, dann nahm sie ihre Tasche und ihren Schal und stahl sich durch den dunklen Garten zum Tor hinaus.
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Zwölftes Kapitel
T yndall ist ein anderer Mensch geworden«, verkündete Conrad mit einer Mischung aus Belustigung und mildem Erstaunen. »Er vergöttert das Baby. Wer hätte das gedacht?«
Olivia sah, wie Tyndall das Baby in den Armen wiegte, mit ihm sprach und alberne Geräusche machte. Zu ihrer Überraschung verspürte sie einen Stich Eifersucht. Aber es gab noch andere Gefühle in ihr, Empfindungen, die sie nicht benennen, geschweige denn sich selbst erklären konnte. Sie liebte dieses kleine Wesen, dem sie auf die Welt geholfen hatte. Die Geburt des Kindes hatte aber noch etwas bewirkt. Tyndalls unverhohlene Freude, seine kleinen Berichte über die täglichen Fortschritte der Tochter, seine Ernsthaftigkeit in Fragen der Babypflege – trotz der Fürsorge Niahs und der Amah – hatten eine Gesprächsbasis geschaffen, auf der Tyndall und Olivia sich
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