Traenenengel
konnte hören, dass Flora zögerte. »Lass mal. Karoline ist morgen zu Hause und will Mutter-Tochter-Tag machen. Wir hatten
ein bisschen Zoff und sie will reden.«
»Dann sehen wir uns am Abend?«
»Okay.«
»Und wenn irgendwas ist, rufst du an, ja?«
»Mach ich.«
»Tschüss denn.« Kurz bevor Trixi auflegte, hörte sie ein leises
Pass auf dich auf
aus dem Telefon kommen. Dann war die Leitung tot.
***
Zeugenvernehmung von Walter Duve
Zur Person
Name: Duve
Vorname: Walter
Geb. Datum: 23. 11. 40
Beruf: Rentner
Wohnort: Telpen
Adresse: Virchowgasse 2
Vernommen im Fall der gefährlichen Körperverletzung zum Nachteil von Flora Duve. (Vernehmung durchgeführt von Polizeianwärter
Masaryk)
Zur Sache
F: Was für ein Verhältnis haben Sie zu Ihrer Enkelin Flora?
A: Sie ist mein einziges Enkelkind. Man kann sich seine Enkel nicht aussuchen.
F: Sie hätten also lieber eine andere Enkelin?
A: Haben Sie was mit den Ohren? Ich sagte doch eben: Man kann sie sich nicht aussuchen. Gibt doch keinen Katalog. Also brauche
ich gar nicht darüber nachzudenken, was ich gerne hätte. Ich dachte, ich bin hier bei einer Vernehmung und nicht bei einer
Traumdeutung. Flora ist meine Enkelin. Sie ist, wie sie ist. Wir kommen miteinander aus. War es das, was Sie wissen wollten?
F: Ich weiß nicht, ob ich Sie richtig verstanden habe, Herr Duve. Würden Sie Ihr Verhältnis zu Flora als angespannt bezeichnen?
A: Ich würde jedes Verhältnis als angespannt bezeichnen. Wenn zwei Menschen aufeinandertreffen, entsteht Spannung. Ist Ihnen
das noch nie aufgefallen, Sheriff?
F: Ich merke gerade, was Sie meinen. Aber konkret mit Flora. Hatten Sie da Streit? Gab es Probleme?
A: Natürlich. Sie ist sechzehn. Wir habenständig Streit. Wissen Sie, was meine Enkelin ist? Sie ist eine verwöhnte, egoistische, schnippische, verzogene, ausgekochte
kleine Zeckenzicke.
F: Aha.
A: Und genau deshalb mag ich sie so.
F: Herr Duve, wann haben Sie Flora zum letzten Mal vor dem Überfall am See gesehen?
A: Vor dem Länderspiel. Sie kommt immer in den unmöglichsten Augenblicken vorbei.
F: Wann war das?
A: Reicht Ihr geistiger Horizont nur bis zum Brett vor dem Kopf oder interessieren Sie sich wirklich nur für Leute, die bei
Rot über die Ampel gehen? Das Länderspiel war vergangenen Sonntag.
F: Herr Duve, Ihnen ist klar, dass ich Sie wegen Beamtenbeleidigung anzeigen kann?
A: Ich bin alt und senil. Mir kann keiner was.
F: Da wäre ich an Ihrer Stelle vorsichtig.
A: Ach, hören Sie doch auf, den Beleidigten zu spielen. Ich rede mit jedem so, wie es mir passt, ob das meine Enkelin ist,
ein Beamter oder der Papst.
F: Haben Sie Flora seit dem Überfall schon gesehen?
A: Nein. Sie war noch nicht hier.
F: Machen Sie sich keine Sorgen?
A: Natürlich mache ich mir Sorgen. Wofür halten Sie mich? Für einen asozialen alten Eigenbrötler, dem alle Menschen egal sind?
Flora ist noch nicht vorbeigekommen und ich setze keinen Fuß in die Wohnung meiner Tochter, solange dieser Glattarsch von
Götz dort hockt. Ich habe mit Karoline und mit Flora telefoniert. Ich weiß, dass es ihr gut geht. Das muss erst mal reichen.
F: Sie verstehen sich nicht besonders gut mit dem Partner Ihrer Tochter?
A: Ich habe mich mit keinem Partner meiner Tochter jemals verstanden. Dieser Götz – was ist das überhaupt für ein Name! –
ist besonders hartnäckig. Und er besitzt auch noch die Frechheit, freundlich zu mir zu sein.
F: Herr Duve, wo waren Sie in der Nacht vom Mittwoch zum Donnerstag?
A: Was soll denn diese bescheuerte Frage? Ist das hier ein Film? Zu Hause natürlich. Was meinen Sie, wo ein siebzigjähriger
Mann seine Nächte verbringt? In der Disko? Im Puff? Oder mit seiner Enkelin nachts am See? Die hat ja wohl hoffentlich was
Besseres zu tun, als mit einem Haufen zerknittertem Trockenfleisch wie mir die Abendezu verbringen. Ich sag Ihnen mal was, Sie Kleinstadtsheriff, Ihnen muss der Arsch ganz schön auf Grundeis gehen, wenn Sie
zu mir kommen und solche Fragen stellen. Der Überfall auf meine Enkelin ist fast schon eine Woche her und Sie haben nichts.
Nichts. Sie stochern in einem riesengroßen Haufen vollkommen untauglicher Verdachtsscheiße.
F: Danke für die aufmunternden Worte. Haben Sie denn einen tauglichen Verdacht? Gibt es Leute, mit denen Flora gestritten
hat, außer mit ihrem eigenen Großvater? Hatte sie Feinde?
A: Jeder Mensch hat Feinde. Wer keine Feinde hat, ist tot.
F: Geht es noch
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