Träum weiter, Liebling
wirst du nicht. Und du gehst heute Abend auch nicht mit diesen Herumtreibern aus, die du Freunde nennst.«
»Wir wollen doch bloß ins Kino, und du kannst mich eh nicht aufhalten.«
»Lüg mich ja nicht an, Bobby! Du hast nach Alkohol gestunken, als du letztes Mal nach Hause kamst. Ich weiß genau, was du und deine Freunde treiben!«
»Du weißt einen Scheißdreck.«
Edward blickte mit überrascht aufgerissenen Augen zu Rachel auf. »Ist das die Mama von dem Jungen?«
Rachel nickte und drängte ihn weiter zum Ende des Gangs.
»Haben die sich denn gar nich‘ lieb?«
»Doch sicher. Aber sie haben Probleme, Bärchen.«
Weil sie sich der Aufmerksamkeit, die sie erregte, überdeutlich bewusst war, versuchte sie ihre Einkäufe so schnell wie möglich zu erledigen. Die Reaktionen reichten von verblüfften Blicken bis zu zornigem Gemurmel. Obwohl sie Ablehnung erwartet hatte, war sie überrascht über die Heftigkeit. Es mochten drei Jahre vergangen sein, aber die Bewohner von Salvation, North Carolina, hatten nicht das kleinste bisschen vergeben und vergessen.
Als sie und Edward mit ihren mageren Lebensmittelreserven die Landstraße entlangmarschierten, versuchte sie, sich Bobby Dennis‘ Reaktion zu erklären. Er und seine Mutter waren ganz offensichtlich zerstritten, daher bezweifelte sie, dass seine Reaktion nur ihre Gefühle widerspiegelte. Seine Antipathie schien persönlicher Natur zu sein.
Sie hörte auf, über Bobby nachzudenken, als sie einen großen Geländewagen mit einem Nummernschild aus Florida herankommen sah. Da es keine Einheimischen sein konnten, wagte sie es, den Daumen rauszustrecken. Eine Witwe aus Clearwater saß in dem rostbraunen Wagen und nahm sie bis zum Autokino mit. Als Rachel ausstieg, verdrehte sie sich den Fuß, und die dünnen Riemchen an ihrer rechten Sandale rissen. Die Schuhe waren nicht mehr zu gebrauchen, und jetzt hatte sie nur noch ein einziges Paar.
Edward schlief kurz vor neun ein. Sie saß barfuß auf dem Kofferraumdeckel ihres Impalas, ein altes Badetuch um die Schultern geschlungen, und betrachtete das zerknitterte Zeitschriftenfoto, das die Ursache für ihr Kommen war. Sie faltete das Blatt sorgfältig auseinander, knipste die Taschenlampe an, die sie dabei hatte, und blickte ins Gesicht von Gabes älterem Bruder Cal.
Obwohl sich die beiden stark ähnelten, wirkten Cals kantige Gesichtszüge wegen des beinahe komisch glücklichen Ausdrucks weit sanfter als die seines Bruders, und Rachel fragte sich, ob das an seiner Frau lag, der attraktiven, aber ziemlich gelehrt wirkenden Blondine, die lächelnd an seiner Seite saß. Das Foto war in Rachels altem Haus, einem riesigen, im Zuckerklassizismus gebauten Herrenhaus auf der anderen Seite von Salvation, gemacht worden. Es war vom Staat konfisziert worden, um einen Teil von Dwaynes Steuerschulden zu begleichen, und es war leer gestanden, bis es Cal nach seiner Heirat samt Einrichtung erwarb.
Das Bild war in Dwaynes ehemaliger Bibliothek aufgenommen worden, aber sie hatte die Seite nicht aus Sentimentalität herausgerissen. Es lag vielmehr an dem Gegenstand, den sie im Hintergrund des Fotos erspäht hatte. Auf dem Regal direkt hinter Cal Bonners Kopf stand eine ledergebundene Schatulle in der Größe eines halben Brotlaibs.
Dwayne hatte die Schatulle vor zirka dreieinhalb Jahren von einem Händler erworben, der die teuren Errungenschaften ihres Mannes geheim hielt. Dwayne wollte die Schatulle unbedingt haben, weil sie einmal John F. Kennedy gehört hatte - nicht, dass Dwayne ein Kennedy-Fan gewesen wäre, aber er liebte alles, was mit den Reichen und Berühmten zusammenhing. In den Wochen vor seinem Tod, als ihm das Finanzamt immer mehr auf den Pelz rückte, hatte sie ihn oft dabei ertappt, wie er die Schatulle nachdenklich anstarrte.
Eines Nachmittags hatte er sie von einer kleinen Landepiste nördlich der Stadt aus angerufen und ihr mit panischer Stimme mitgeteilt, dass er jeden Moment verhaftet werden konnte. »Ich - ich dachte, mir bliebe noch mehr Zeit«, meinte er, »aber sie werden heute Abend zum Haus kommen, und ich muss das Land so schnell wie möglich verlassen. Rachel, ich bin noch nicht bereit! Bring mir bitte Edward, damit ich ihm Lebewohl sagen kann. Ich muss mich unbedingt von meinem Sohn verabschieden. Das musst du einfach für mich tun!«
Sie hörte die Verzweiflung in seiner Stimme und wusste, dass er fürchtete, sie würde sich weigern, wegen ihrer Bitterkeit über die Art, wie er ihrer beider Kind
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