Traeum weiter, Mann
hinaus zur Ostsee. Der Himmel über O. hat sich zugezogen. Bestimmt wird es bald regnen. Aber draußen auf dem Meer sind keine Wolken. Heiner kann es deutlich sehen: Über Dänemark scheint die Sonne.
12
Robbenfang
»Mr. S’öningg?«
Gerald öffnet vorsichtig ein Auge. Vor ihm steht ein asiatisch aussehendes Zimmermädchen in schwarzem Rock und weißer Schürze. Er kann sie gar nicht richtig erkennen, weil ein traniger Schleier vor seinen Augen hängt.
»Ja?«
»It is twelve o’clock!«
12 Uhr? Mist! Er hätte das Zimmer vor einer Stunde räumen müssen.
»Egal.«
Gerald zieht sich die Bettdecke über den Kopf. Seine Zunge ist trocken wie Sand, und unter seiner Schädeldecke werden schwere Pfähle ins Vorderhirn gerammt.
»Sorry, Sir, you have to leave this room immediately.«
Im Gesicht der Frau liegen Zurückhaltung und Ärger zugleich.
»Wenigstens Duschen werde ich ja wohl dürfen. Das ist Menschenrecht!«, bölkt er auf Deutsch.
Das Zimmermädchen wird sauer: »I’m sorry, but I have to call the security service.«
»Ja ja.«
Erst jetzt bemerkt Gerald, dass er in vollen Klamotten geschlafen hat, irgendjemand hat ihm die Schuhe ausgezogen – Steff?
Wo steckt sie? Zehn Minuten später steht er, notdürftig gewaschen, in denselben Klamotten mit seinem Lederrucksack an der Rezeption. Für ihn ist ein Brief hinterlassen worden, von einer Stefanie Schmidt, wie auf dem Umschlag mit dem Emblem des »Scandic Weber«-Hotels steht. Gerald öffnet ihn gleichgültig.
»Lieber Gerald, es tut mir alles so leid«, steht da in runder Schreibschrift. »Wir hätten uns einen schönen Abend in Nyhavn machen sollen. Es war mein Fehler, sorry, sorry, sorry. Bis bald, Steff (bin schon vorgefahren).«
Gerald wurschtelt den Brief in die Seitentasche seines Tweed-Jacketts und bezahlt die Rechnung für sich und Steff mit seiner Kreditkarte.
Draußen ist es zum Glück grau und feucht, genau das passende Wetter für seinen Zustand. Er hätte keine Lust gehabt, sich bei Sonnenschein durch gut gelaunte Volksmassen zu kämpfen. Ein paar Meter weiter isst er an einem Kiosk einen Hotdog mit kalten gerösteten Zwiebeln und Remoulade. Danach nimmt er gleich noch einen, dazu trinkt er einen halben Liter Cola.
Danach fühlt er sich etwas besser und schlendert langsam Richtung Ørstandsparken. Es scheint in der Nacht ein Unwetter gegeben zu haben, überall liegen Laub und abgebrochene Zweige herum, die von Männern und Frauen in grünen Latzhosen zusammengefegt werden. Auf dem Teich vor der wild wuchernden Hölle der malerischen Insel ist ein Ruderboot aus Aluminium festgemacht, ein Mann mit einem Kescher fischt Flaschen und Bierbüchsen heraus. Zwei Männer schrubben die Bank, auf der Steff und er am Vortag gesessen haben, mit einer seifigen Flüssigkeit ab.
Gerald schlurft weiter nach Nyhavn, als könne er hier irgendetwas von dem nachvollziehen, was passiert ist. Die bunten Lagerhäuser versuchen erfolglos gegen das Himmelsgrau anzuleuchten. Vor den Eingängen stehen Lastwagen, die die Restaurants mit Ware beliefern, es riecht nach kaltem Fleisch, Gemüse und Diesel. Gestern war für ihn hier der Höhepunkt der Euphorie – auf die der Tiefpunkt seines Lebens folgte.
Plötzlich kommt es ihm so vor, als ahmte er mit seinem Gang hierher nur irgendeine melodramatische Filmszene nach. Es hat mit Steff nicht geklappt, er wird aus der Pension ausziehen und sich etwas Neues suchen, Ende der Geschichte! So etwas passiert.
Gerald hält ein dunkelblaues Mercedes-Taxi an.
»Til hovedbanegård«, sagt er und steigt hinten ein.
Der Taxifahrer ist ein älterer Inuit und mustert ihn mit seinen dunklen kleinen Augen. Als wenn er Gerald erwartet hat und ihn durchschaut, ein Weiser, mit einem »zweiten« Gesicht. Aber das muss eine Fehlschaltung in seinem Hirn sein, der Mann ist kein Schamane und lebt auch nicht vom Robbenfang, sondern vom Taxifahren.
»Tysk?«, fragt er.
»Ja«, brummt Gerald. »Frå Tyskland.«
Der Kopenhagener Bahnhof kann schön sein, wie er will, Gerald will nur schnell zurück. Er hat Glück. Der Schnellzug København – Hamburg steht abfahrbereit am Gleis, er springt hinein. Leider befindet sich der einzig freie Platz in einem Großraumabteil mit christlichen Pfadfindern aus den Niederlanden. Sie kommen von einem Zeltlager aus Schweden und schnattern aufgeregt durcheinander. Irgendwann fangen sie an, christliche Lieder auf Niederländisch zu singen, jedenfalls vermutet er das, weil neben dem Wort
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