Traeum weiter, Mann
»Halleluja« der Name »Jesus« so häufig vorkommt. Um sich abzulenken, googelt er in seinem Handy den Dichter Rilke und stößt auf ein relativ kurzes Gedicht namens »Abschied«. Er stellt es sich vor wie Immobilienbriefing: »Das Haus besitzt zum Meer hin eine durchgehende Fensterfront, die bulthaup-Küche ist erst zwei Jahre alt und besitzt zwei Backöfen, im ganzen Haus haben wir eine neue Fußbodenheizung ...« Er lernt es trotz des Lärms erstaunlich schnell auswendig. Dann schläft er ein, eine Eigenschaft, die seine letzte Freundin fast zum Wahnsinn getrieben hat: Er konnte immer schlafen, auch unmittelbar nachdem sie sich gestritten hatten.
Gerald wacht erst auf, als der Zug auf das Unterdeck der Fähre rollt. Er steigt aus und geht nach oben in die Shopping-Mall. Das Restaurant am Bug, in dem er am Vortag mit Steff gefrühstückt hat, meidet er. Stattdessen isst er am Heck eine Pommes und kauft im Duty-free-Shop ein Sixpack dänisches Starkbier.
Eines davon trinkt er gleich an Deck.
Das Meer beruhigt ihn heute kein bisschen! Es liegt grau und flach da wie eine Suppe, die jemand nicht mochte und einfach stehen gelassen hat. Allein das Bier muntert ihn etwas auf.
Als er endlich die Fahrertür seines flaschengrünen Landrovers aufschließt, kommt ihm der Wagen vor wie sein wahres Zuhause. Hinten liegen sein Daunenschlafsack und eine Isomatte.
Er fährt nicht weit vom Fährhafen auf eine Seitenstraße, von dort biegt er ab auf einen Feldweg und nimmt dann einen noch schmaleren Weg mit riesigen Schlaglöchern. Er endet am Strand, im Sommer ist dies ein beliebter Surf-Treffpunkt.
Es wird dunkel.
Er nimmt Schlafsack und Isomatte aus dem Wagen. Der Sand ist feucht und die groben Steine, die überall herumliegen, riechen nach Tang. Gerald breitet die Isomatte im Sand aus, zieht sich die Hose aus und legt sich in den dicken Schlafsack, der bis –20 Grad warm hält. Sein Körper heizt ihn auf, was sich gut anfühlt und ihn tröstet. Nebel zieht auf. Er sieht einen Frachter mit hell erleuchteter Brücke langsam vorbeiziehen, die Lichter werden weich und an den Rändern unklar. Irgendwann fällt Gerald auf, dass er das Bier im Wagen vergessen hat, er hat aber keine Lust, den warmen Schlafsack zu verlassen. Fetzen des Herbstgedichtes von Rilke fallen ihm wieder ein:
Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.
Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,
er wird in den Alleen hin und her
wandern, wenn die Blätter treiben.
Oder so ähnlich.
Seine letzte wirkliche Beziehung ging vor über einem Jahr zu Ende. Simone, Lehrerin für Mathe und Physik. Bisher hat er immer geglaubt, sie waren einfach die falschen füreinander und haben es viel zu spät erkannt.
Jetzt ist er da nicht mehr so sicher.
Wenn es bis aufs Letzte drauf ankam, verbindlich zu jemand zu stehen, war er sich nie sicher, sondern ist lieber ausgewichen. Zu einer anderen oder einfach nur weg. So lange er nicht weiß, warum das so ist, kann er keine neue Beziehung eingehen, selbst wenn er wollte, es funktioniert einfach nicht mehr.
Komischerweise fallen ihm seine Eltern ein. Sie sind lange tot. Waren Walter und Isolde ein glückliches Paar? Geht so, würde er heute sagen. Ein Therapeut hätte seine helle Freude an ihm. Vielleicht sollte er sich wirklich mal auf die Couch legen.
Zum Glück wird er bald müde.
»Ich muss Steff noch die 400 Euro geben«, ist das Letzte, was er denkt, bevor seine Träume anfangen zu tanzen.
13
Der seltsame Franzose
»Möchtest du noch was trinken?«, fragt Heiner Steff. Sie sitzt am Fenster, hinter ihr kann er Wolken sehen, die Sonne dreht sich herein und blendet ihn so sehr, dass er von Steffs schönem Gesicht nur die Konturen erkennen kann.
»Gerne, einen Chai Latte bitte.«
Lächelt sie? Für einen Moment spürt Heiner, wie eine angenehme Wärme seinen Körper durchströmt. Das gleichmäßige Brummen der Triebwerke im Hintergrund wirkt genauso beruhigend wie das sanfte Summen einer liebenden Mutter.
Er streichelt ihr über die Wange. Was für eine zarte Haut sie hat! Wie gut sie riecht! Er strahlt sie an und sie ihn. Das Paradies, hier über den endlosen Wolken.
Er dreht den Kopf und sieht sich um. Keine Stewardess ist zu sehen.
»Holst du mir einen Chai Latte?«, wiederholt sie, und ihre Stimme klingt, als wenn sie singt.
Er nickt. »Ja, mein Schatz.«
Dann stemmt er sich hoch. Keine Schmerzen mehr im Rücken. Im Gegenteil, er fühlt sich topfit, unsterblich, unendlich glücklich. Langsam
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