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Traeume ernten

Traeume ernten

Titel: Traeume ernten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lidewij van Wilgen
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Freiheit zurück und lass das arme Mädchen nicht länger in diesem Zimmer verkümmern.« Erst jetzt wird mir klar, was der Preis für seine Gemütsruhe ist. »Ja, aber ich will nicht ohne dich weiterleben«, seufzt er, »ich weiß jetzt erst, wie anders eine Beziehung sein kann.«
    In klaren Momenten weiß ich, dass ich meine Zeit so nicht länger vergeuden darf, aber dann höre ich abends sein Auto aufs Grundstück fahren, spüre seinen Körper neben mir im Bett, auch wenn es nur für ein paar Stunden ist. Ich denke ständig an ihn, blicke seufzend zum Horizont, als ob mich das näher zu ihm bringen könnte. Ich verzehre mich wie die Heldinnen aus den Büchern der Geschwister Brontë, genauso grüblerisch und gelähmt, fehlt nur noch, dass ich mit einem Blumenkorb durch den Garten wandle.
    Marijn ist inzwischen wirklich groß geworden – nach dem Sommer geht sie auf die weiterführende Schule. Ich schlage »En France« vor, einen Artikel über das Unterrichtssystem in Frankreich zu schreiben, ein guter Vorwand, um mir in aller Ruhe die Schulen in der Umgebung anzuschauen. »Wir haben eine ausgezeichnete Schule«, sagt der Direktor des collège in Murviel, während seine Augen sich an meinem Dekolleté festsaugen. »Etliche Schüler haben eine große Laufbahn hinter sich. Erst letztens haben zwei Mädchen die Friseurschule in Montpellier mit Erfolg abgeschlossen und jetzt … jetzt haben sie ein eigenes Geschäft!«
    Ein Freund aus dem Dorf unterrichtet Mathematik an dieser Schule, er lädt mich ein, an den Beratungsgesprächen am Elternsprechtag teilzunehmen.
    Scheu setzen sich die ersten Eltern zu uns an den Tisch, ein dicker Mann in einer Militärjacke und seine Frau. Ich sehe die Schweißtropfen auf seiner Stirn, die kräftigen Hände, die ein Werkzeug festhalten sollten und jetzt wie zwei tote Vögel vor uns auf dem Tisch liegen. »Ihr Sohn hat in diesem Jahr noch kein einziges Genügend bekommen«, sagt mein Bekannter.
    Â»Ich weiß«, sagt der Mann, während er an uns vorbei nach draußen blickt, »aber er kann die Schule bald verlassen. Der Junge will auf dem Traktor sitzen, genau wie ich.« Es kommen noch mehr Eltern, die meisten zählen die Tage, bis ihre Kinder die Schule verlassen können. Ich muss an Marijn denken, an ihren Traum, Medizin zu studieren. Wieder einmal sehe ich die Gefahren, die meine Phantasien von einem Leben auf dem Land mit sich bringen.
    Zu Beginn einer langen Wanderung schaut Pierre missbilligend auf meine teuren Wanderschuhe. »Sherpas steigen in Flip-Flops auf den Himalaya«, sagt er. Ich nicke und stelle meine bequemen Schuhe zurück ins Auto – und klebe an diesem Abend große Pflaster auf drei meiner Zehen.
    Â»Der Junge hat etwas Schweres, etwas Hypnotisierendes«, sagt Simone, als sie ihn trifft. »Ich hoffe, du weißt, was du tust.« Pierre und ich fahren auf einem wunderschönen Weg durch das Hinterland von Montpellier, durch eine offene Landschaft mit Felsen und Weingärten in einem frischen Grün und dem Meer im Hintergrund. Ich genieße die Umgebung und lege zufrieden meine Hand auf Pierres Bein. Erst als ich aufblicke, sehe ich seinen traurigen Blick. »Ich bin schon zu lange hier«, sagt er, »für dich ist das alles neu, ich bin fertig damit.«
    Aber unsere Träume, denke ich und ringe nach Luft. Das Weingut?
    Das Wichtigste traue ich mich nicht zu fragen: Will er alleine fortgehen?
    Â»Es ist wunderbares Wetter!«, sage ich ein paar Tage später, »sollen wir am Strand mittagessen?« Er seufzt. »Das würde ich gerne, aber ich habe zu viel mit den Vorbereitungen auf die Ernte zu tun«, sagt er, und eine lange Geschichte voller Klagen und persönlicher Probleme folgt.
    Â»Pierre, es ist Juli!«, sage ich.
    Es dauert Wochen, eher Monate, aber allmählich komme ich dahinter. Es geht nicht um seine Freundin, sondern um seine eigene Gemütsverfassung, nicht um mein Leben, sondern um sein Leiden. Nirgendwo scheint Licht, nicht ein bisschen. Ab und zu verfällt er ins andere Extrem: Sollen wir zusammen von hier fortgehen? Alles zurücklassen und eine Segelschule auf Martinique oder La Réunion aufbauen? Allmählich merke ich, dass er redet wie ein 20-jähriger Junge, dass ich selber diese Träume schon lange nicht mehr habe. Ich lese in einer alten Zeitschrift, dass sie

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