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Traeume ernten

Traeume ernten

Titel: Traeume ernten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lidewij van Wilgen
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Tagen nehme ich mehr als 60 Anrufe entgegen: »Mann, 25, Student, keine Erfahrung«, »Frau, 22, Studentin, keine Erfahrung«, »Frau, 42, arbeitslos, sechs Mal geerntet!« …
    Der Triumph, der sich zunächst einstellt, lässt ein wenig nach, als ich, fast drei Monate später, die potenziellen Helfer zurückrufe. » Ah non , ich habe inzwischen Arbeit gefunden« oder »Nein, ich habe schon meinem Onkel versprochen, bei ihm zu pflücken.« Ganz offensichtlich hatte ich die Anzeige zu früh geschaltet. Und dann gibt es da noch ein Problem, das mich ein wenig beunruhigt: Ein großer Teil der Leute scheint gar nicht zu wissen, wovon ich rede. »Weinlese? Wieso? Nein, ich habe nicht angerufen.« Regelmäßig höre ich auch einen Piepton und die Stimme einer freundlichen Dame, die erklärt: »Ce numéro n’est pas attribué.« Es dauert eine Weile, bis mir aufgeht, dass ich etliche Telefonnummern falsch notiert habe.
    Quatre-vingt-dix-huit – soixante-douze – quatre-vingt-seize , bei meinem Versuch, die nette, spontane patronne , Arbeitgeberin, zu mimen, hatte ich doch glatt vergessen, dass ich diese Rolle noch nicht völlig beherrsche – eine ziemlich ernüchternde Entdeckung.
    Glücklicherweise brauche ich nur zwölf Leute, die ich schließl ich auch finde: zum Beispiel Michel, 39 Jahre, Sozialarbeiter, Stéphanie, 19 Jahre, Pädagogikstudentin, Jean-Denis, 45 Jahre, pensionierter Berufssoldat, Frédéric, 26 Jahre, Philosophiestudent. Eine interessante Gesellschaft, wie mir scheint, allerdings habe ich keine Ahnung, was diese Leute bei der Weinlese leisten können.
    Â»Oh, übrigens, die Mannschaft ist komplett«, sage ich an diesem Nachmittag wie nebenbei zu Brunos Rücken.

7
    Die Schulferien nähern sich ihrem Ende. Ich habe eingekauft und stehe mit den Mädchen an der Kasse im Supermarkt.
    Â»Bonjour!« , sagt ein kleiner Junge aus Marijns Klasse.
    Â»Bonjour!« , antwortet Marijn.
    Nach zwei Monaten Ferien hat sie für einen Moment vergessen, dass sie in der Schule noch immer nicht spricht. Und zufällig trifft sie gerade auf den größten Schauspieler in der Klasse, der jetzt mit offenem Mund die Arme hochreißt und in den vollen Laden schreit: »Elle parle! ELLE PARLE !!« Sie spricht!
    Â»Ah oui, elle parle!« , höre ich die Frauen hinter mir zueinander sagen. Kurz danach weiß es das ganze Dorf. Doch es gibt erneut einen Rückfall, als die Schule wieder anfängt. Die Lehrerin, die die guten Nachrichten auch schon gehört hat, setzt Marijn vor die Tafel, wo sie ein Gedicht vortragen soll. Ein paar Wochen lang hüllt sich Marijn daraufhin erneut in Schweigen, bis die Lehrerin mir nach langem Drängen schließlich erlaubt, mit in die Klasse zu kommen. Ganz klein sitze ich neben Marijn auf einem Stuhl und halte unter dem Tisch ihre Hand. »Le petit mouton« , sagt sie, »Das kleine Schaf«, die erste Zeile eines Gedichts, das wir zu Hause vorbereitet haben. Dann spricht sie weiter, ganz ruhig und in einem wunderbaren Französisch. Das Mädchen, das neben ihr sitzt, hebt gerührt den Blick, ich sehe Tränen in ihren Augen.
    Wahrscheinlich hat sie Marijns Stimme noch nie gehört.
    Mia betritt die Herberge. Sie begrüßt mich brummelnd und läuft gedankenverloren an mir vorbei in die Küche, wo sie eine Rolle Tiefkühlbeutel aus der Schublade zieht. Und ich weiß auch, wofür sie die Beutel benötigt: Auf jeden Beutel wird sie den Namen einer Parzelle des Weingutes schreiben und ihn vor Ort mit Weintrauben befüllen. Als sie anderthalb Stunden später zurückkommt, geht Siebe ihr entgegen. Er nimmt jeweils eine Traube aus einem der Beutel, steckt sie sich behutsam in den Mund, nickt nachdenklich und in sich selbst gekehrt oder schüttelt leicht den Kopf.
    Dann legen sie die Trauben auf die Anrichte, um den Inhalt anschließend Beutel für Beutel in meiner blauen Küchenmaschine zu zerkleinern. Den Saft gießen sie in eines meiner alten französischen Schälchen, ein mintgrünes Exemplar mit einem feinen Goldrand. Schließlich entnehmen sie einem länglichen Plastikdöschen einen kleinen Apparat aus Aluminium, vom dem ich jetzt endlich auch weiß, wie er heißt: réfractomètre . Die eine Seite des kleinen Rohres, durch das man hindurchschauen kann, läuft schief zu und ist mit einem

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