Traeume ernten
ärgert mich sogar. Das hier hat schon immer existiert, denke ich, und in 100 Jahren wird es auch noch existieren. Ich fühle mich überflüssig.
Ich muss an Siebe und Mia denken, an die Trauben, die ich nicht pflücken darf, an Aad mit seinem Buch, an meine Arbeit in den Niederlanden. Bertus, der Kater, kommt auf mich zu â während er an meinem Rücken entlangstreicht, an meinen Beinen, starre ich die unberührbare, zufriedene Landschaft an.
Es ist nicht richtig, so wie es ist, denke ich, ich habe alles aufgegeben, um hier zu sein. Aber so macht es keinen Sinn. Ich setze mich aufrecht hin und überlege, dass ich einfach nicht genug weiÃ. Aad hat die Ausstrahlung und die Autorität, um hier ganz selbstverständlich seinen Platz einzunehmen. Er liest schon seit Ewigkeiten Weinbücher. Er ist der Mann, der Besitzer. Ich bin die Mutter mit dem Baby.
Auf einmal sehe ich die Antwort vor mir: Ich muss eine enorme Aufholjagd beginnen â dafür sorgen, dass ich diejenige bin, die alles über Wein weiÃ. Wie ich das machen soll, weià ich noch nicht, aber der Gedanke lässt mich nicht mehr los.
Als ich eine Woche später nach Murviel fahre, um Brot zu kaufen, erkenne ich das Dorf kaum wieder. Die träge Atmosphäre der vergangenen Sommermonate ist von einem Tag auf den anderen einer fieberhaften Aktivität gewichen. Wie eine alte rostige Maschine, die man plötzlich wieder eingeschaltet hat, erzittern die alten SträÃchen unter dem Lärm der Traktoren mit ihren klappernden Anhängern, auf denen hoch aufgetürmte Berge Trauben zu sehen sind, von denen ab und zu ein paar auf die StraÃe fallen. »Viognier« steht hinten auf einem der Anhänger, »Sauvignon« auf einem anderen.
Ich entschlieÃe mich, dem Aufzug zu folgen. Ich fahre hinter einem alten roten Traktor her, auf dem ein dicker Mann sitzt. Sein weiÃes Hemd hängt ihm aus der Hose und flattert wild im Wind. Mit sichtbarer Begeisterung tritt er aufs Gaspedal, die Traubenfracht springt bei jeder Unebenheit auf der StraÃe kurz in die Höhe, um in einer flieÃenden Bewegung wieder zurückzufallen. Am Ende einer Reihe Platanen entdecke ich das Epizentrum der Aktivität: die cave coopérative , die Winzergenossenschaft. Alle Tore sind geöffnet, um dem anhaltenden Strom der Traktoren Platz zu bieten, die wie eifrige Bienen ihren Nektar abliefern. Geschickt parken die Fahrer rückwärts ein, die Anhänger werden hochgekippt, und eine beinahe flüssige Ladung dunkelgelber Trauben gleitet in eine groÃe edelstahlgefasste Ãffnung. Einige Männer drehen sich um und starren mich an. Widerwillig trete ich aufs Gaspedal, ich gehöre nicht dazu, verstehe viel zu wenig von all dem, um mitmischen zu können.
»Ernten wir jetzt auch bald?«, frage ich Siebe, als er mittags vorbeikommt. »Wir? Ernten?« Er lacht und schaut mich mitleidig an, wie ein dummes Kind, das mal wieder eine nicht besonders schlaue Frage gestellt hat. »Lidewij«, sagt er müde, »wir haben doch völlig andere Qualitätsansprüche als eine Winzergenossenschaft, die zusehen muss, dass sie die Trauben von allen Mitgliedern rechtzeitig hereinbekommt. Deswegen fangen sie auch so früh an. Aber wir, wir können warten, bis der optimale Reifegrad erreicht ist.«
Er nimmt eine Traube aus einem der Beutel, die noch auf der Anrichte liegen. »Hier, schau dir mal den Kern an.« Er steckt eine Traube in den Mund und zeigt mir den Kern, der auf der Spitze seines Zeigefingers liegt: »Siehst du das Ende hier? Es ist noch grün. Eine Traube ist erst dann reif, wenn der Kern ganz braun ist.« Ich nehme auch eine Traube in den Mund und betrachte dann den Kern. Er hat recht, der Kern ist noch grün. »Man kann es auch schmecken«, fährt Siebe fort, »ein reifer Kern schmeckt wie geröstete Mandeln, er hat nicht mehr diesen grünen unreifen Geschmack.
Er nimmt eine neue Traube und öffnet sie. »Schau mal, dieser Kern sitzt noch fest im Fruchtfleisch. Bei einer reifen Traube lässt er sich leicht herauslösen.«
Das sind drei einfache, empirische Kriterien, die mir in den nächsten Tagen den Grund dafür liefern, viel mehr Trauben zu essen als notwendig. Es macht mir SpaÃ, die Entwicklung der Trauben selber nachzuvollziehen, mit einer einfachen Methode, die auf gesundem Menschenverstand basiert. Als Siebe eine Woche später sagt, dass
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