Traeume ernten
Kunststoffplättchen verschlossen. Der Traubensaft wird auf dieses Plättchen geträufelt, ein ebenfalls aus durchsichtigem Kunststoff bestehendes zweites Plättchen darüber geklappt und die Vorrichtung dann auf einen hellen Lichtpunkt gerichtet. Ein unbewölkter Himmel reicht völlig aus. Im Visier verfärbt sich die Unterkante des Bildes blau, der Rest bleibt weiÃ. Auf einer Skala kann man jetzt ablesen, wo genau sich der Ãbergang zwischen Blau und Weià befindet und so den Zuckergehalt der Traube und damit den zu erwartenden Anteil Alkohol bestimmen. Diese Methode liefert einen der wichtigsten Indikatoren für die Bestimmung des Reifegrads der Trauben.
»Hey, diese Aufgabe könnte ich doch hervorragend übernehmen!«, sage ich, als Siebe Mia ein paar Tage später wieder in die Weinberge schicken will. Ich trage Laartje in einem robusten Tragesack und bin daran gewöhnt, lange mit ihr herumzulaufen. Siebe schaut mich verärgert an. »Nein, das geht nicht«, sagt er, während er mich kraftlos auffordert, am Tisch Platz zu nehmen. »Hör zu, es handelt sich um Analysen, denen eine exakte Systematik zugrunde liegt. Du kannst nicht einfach 100 Trauben pro Parzelle pflücken, du musst wissen, welche man auswählt. Manchmal nimmt man eine von oben, dann wieder eine von unten, und man muss verschiedene Reihen wählen.«
»Prima«, sage ich, »dann wähle ich also mehrere Reihen pro Parzelle aus und achte darauf, dass ich die Trauben nicht auf derselben Höhe pflücke.« Ich will aufstehen, da Siebe aber sitzen bleibt, sinke ich auf meinen Stuhl zurück. Er seufzt: »Nein Lidewij, ich kann dir das nicht übertragen. Wir haben angefangen, nach Mias Systematik zu arbeiten. Die Zahlen wären nicht mehr kohärent, wenn ich jetzt plötzlich jemand anderen die Stichproben nehmen lassen würde. Das geht nicht.«
Als ich die beiden in ein intensives Gespräch vertieft nach drauÃen gehen sehe, fühle ich mich wie ein ungerecht behandeltes, abgewiesenes Kind, das in einer Ecke des Schulhofs mit einem Stock in der Erde herumstochert, während die anderen hinter dem Ball herlaufen. Zum ersten Mal wünsche ich mir, irgendwo anders zu sein. Mit Wehmut denke ich zurück an die Werbeagentur, an die Versammlungsräume mit ihrer strengen Architektur, den blauen Schein der PowerPoint-Präsentationen, die Menschen, die wohlwollend zu mir aufschauten und sich Notizen machten, während ich sprach. Lang istâs her. Das war noch die Lidewij, die wusste, was zu tun war.
Ich gehe zu Aad. Er ist heute Morgen angekommen und sitzt mit ausgestreckten Beinen auf der Terrasse. Auf seinem Schoà liegt ein wenig inspirierendes Buch über Ãnologie, Weinherstellung, eine Neuauflage aus den Siebzigerjahren. Auf dem Umschlag macht sich ein älterer Mann mit Hut und Doppelkinn an einem Weinfass zu schaffen, innen befindet sich ein schlecht gesetzter Text voller unschöner Skizzen und Zahlen, in dem Aad einzelne Stellen unterstrichen hat.
Ich nehme mir einen Stuhl und setze mich zu ihm an den Tisch: »Hey, erzähl, was liest du da?« Leicht genervt schaut er auf. »Pff, darüber habe ich mich mit Siebe unterhalten«, sagt er, » macération carbonique , Kohlensäuremaischung.« Ich möchte ihm eine Frage darüber stellen, doch ich blicke nicht mehr in sein Gesicht, sondern auf seinen Scheitel. Er hat sich wieder in sein Buch vertieft.
Niedergeschlagen begebe ich mich in Richtung Büro. Ich bin ein Idiot, denke ich. Alle Entscheidungen wurden getroffen, als ich noch mit dem Baby beschäftigt war. Jetzt darf ich zwar zugucken, habe aber an allen Fronten den Anschluss verpasst. Natürlich bleibt so die Verwaltungsarbeit an mir hängen. Ich lege meine Hand auf die Türklinke des Büros. Durch das Fenster sehe ich die Kartons im Halbdunkeln stehen, den Tisch mit dem Stapel Papier darauf, den leeren Stuhl dahinter, auf den ich mich gleich setzen muss. Einem Impuls folgend drehe ich mich um, laufe über den leise knirschenden Kies zum Hügel hinauf, wo ich mich auf einen groÃen Stein unter einer Pinie hocke und über das Land schaue, das sich vor mir ausdehnt. Frischgrüne Weinfelder, Bäume in der Ferne, Hügel, die allmählich in eine flachere Landschaft übergehen, weiter hinten die Landesgrenze am Meer.
Auf einmal ängstigt mich diese ruhige, selbstzufriedene Schönheit, ja sie
Weitere Kostenlose Bücher