Traeume ernten
die Trauben der Rebsorte Grenache Blanc so weit seien, überrascht mich das nicht mehr.
Es ist der 7. September, sieben Uhr morgens. Aad ist oben bei den Mädchen. Die Luft ist noch frisch, das weiche, gelbe Licht ist nicht mehr als eine vorsichtige Andeutung des heiÃen Tages, der vor uns liegt. Bruno hat die Erntekisten in langen Reihen auf dem Anhänger gestapelt und läuft jetzt unruhig am Eingang des Weingutes auf und ab, wie ein kleiner Junge, der darauf wartet, dass die ersten Kinder zu seinem Fest kommen. Bei jedem Geräusch schreckt er auf: Da, das näher kommende Geräusch eines Autos, das lauter, immer lauter wird, bevor es wieder abebbt, nachdem das Auto am Eingang zum Weingut vorbeigefahren ist. Ich lausche mit ihm, höre das verhaltene Gezwitscher eines vereinzelten Vogels, das Geräusch von Blättern, die zweifelnd im Wind rascheln. Dann hole ich eine volle Kanne Kaffee aus der Herberge und stapele Tassen auf ein Tablett, jetzt bin auch ich für das Fest vorbereitet.
Und dann, auf einmal, ist es da. Ein knirschendes Geräusch am Anfang des Weges, eine Tür, die zugeschlagen wird, der erste Erntehelfer. Es ist Michel, der Sozialarbeiter. Mit geschmeidigen Schritten läuft er die schmale Treppe neben der Esche hinauf und kommt mit ausgestreckter Hand auf mich zu. Unter seinem groÃen Grinsen trägt er die Uniform eines Touristen auf einem Ausflug: kurze Hose, fröhlich gestreiftes T-Shirt, beiger Hut mit durchgesticktem Rand. Fehlt nur der Fotoapparat um den Hals und das praktische Hüfttäschchen mit den Reisedokumenten. Michel wohnt noch nicht so lange in der Region und hat sich zwei Wochen Urlaub genommen, um dieses Ereignis aus der Nähe erleben zu können: eine echte Weinlese! Als Aad vorschlägt, ihm den Weinkeller zu zeigen, springt er sofort auf und läuft fröhlich hinter ihm her. Einen Notizblock, den vermisse ich auch noch.
Oben an der Treppe ist inzwischen eine ernst dreinblickende Gestalt erschienen, die sich sehr aufrecht hält. Es ist Jean-Denis, der Ex-Soldat. Er trägt Springerstiefel, und eine enge khakifarbene Hose spannt sich um seinen durchtrainierten Hintern. Wie ein aggressiver Hund, der nicht weiÃ, wohin mit seiner Energie, läuft er um den Tisch herum. Die Ernte ist eine Mission, jede verlorene Minute ist eine Minute zu viel. Als ich ihm eine Tasse Kaffee anbiete, steht Jean-Denis plötzlich still, mechanisch rührt er in seiner Tasse. Ich lausche dem Kling-Kling-Kling von Metall auf Porzellan und merke, dass »sympathisch« nicht das erste Wort ist, das mir zu ihm einfällt. Glücklicherweise ist da auch noch Stéphanie, die Studentin, die ihr langes dunkelblondes Haar mit einem hellblauen Tuch hochgebunden hat. Es folgen Géraldine, eine farblose Frau Anfang 40, und Carole, blond, nett, etwas jünger als ich. Ich rufe sie einen nach dem anderen zu mir, um ihre persönlichen Daten in ein spezielles Formular einzutragen, das ich schnell wieder zuklappe, als ich die komplizieren Rechenmodelle auf der nächsten Seite sehe. Darum kümmere ich mich später.
Siebe betritt mit energischen Schritten die Szene. Ich renne ihm zum Weinkeller hinterher, wo Michel sich zufrieden an ein Fass lehnt und Aad zuhört. »Hé, toi!« , ruft Siebe. Michel blickt überrascht auf, stupst sich mit dem Zeigefinger auf die Brust, formt ein geräuschloses »Moi?« mit den Lippen. Mit ein paar kleinen, schnellen Schritten ist er neben Siebe, der einen forschenden Blick über Michels gedrungenen Körper gleiten lässt. » Oké, tu sera porteur. Du wirst Träger. Probier das mal.« Siebe holt eine Aluminiumkonstruktion mit ledernen Tragegurten. Sie sieht solide aus, auch wenn der Hersteller sich nicht von der menschlichen Anatomie hat inspirieren lassen. Das Gestell scheint vor allem dafür gemacht worden zu sein, an einer Mauer zu hängen, vielleicht noch an einem Zaun.
Siebe streift Michel die Tragegurte über die Arme und zieht sie zu seinen Schultern hinauf, dann zurrt er ein wenig an den Schnallen. »Et voilà !« , sagt er zufrieden. Er nimmt eine Kiste vom Wagen und stellt sie auf die Konstruktion, sodass Michel überrascht nach hinten kippt und zu lachen beginnt. Ein Schatten der Verärgerung zieht über Siebes Gesicht. » Allez , alle raus auf die Parzelle!«, sagt er, »wir haben schon viel zu viel Zeit verloren! Hopp! Das geht schneller!« Mit einer
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