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Traeume ernten

Traeume ernten

Titel: Traeume ernten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lidewij van Wilgen
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auf die träge vorbeiziehende Masse gerichtet, Hände schießen nach vorne, sobald sich eine Unregelmäßigkeit zeigt. Ich stehe am Ende, die letzte Hürde, bevor die Trauben auf die sauterelle , ein schräg nach oben laufendes Transportband, fallen. Ein verantwortungsvoller Posten. Ich will nicht einen Fehler zulassen – ein unerwartetes Gefühl der Befriedigung stellt sich bei dieser monotonen und mechanischen Arbeit ein.
    Ich freue mich, dass ich Frédéric mit an den Sortiertisch geholt habe. Unser Philosophiestudent ist ein schlanker junger Mann mit wilden schwarzen Locken und einem Dreitagebart, den ich mit seinem schiefen Grinsen und dem unschlagbaren Humor sofort ins Herz geschlossen habe. Nach der ersten Ladung Trauben dreht er ein wenig an einem alten Radio, das er zwischen den Kartons gefunden hat, und stellt einen Sender ein, der einen Strom von französischen und internationalen Evergreens ausspuckt. Mit kulturanthropologischer Präzision kommentiert Frédéric die französische Popkultur der letzten 40 Jahre, eine ganz eigene Welt, die bisher völlig an mir vorbeigegangen ist. Wie habe ich die Siebzigerjahre nur überleben können, ohne zu wissen, dass der Disko-König in Frankreich Claude François hieß? Dass sein Showballett genauso legendär wie das von Penney de Jager in den Niederlanden war? Wie werde ich mich je integrieren können, wenn ich nicht wie jeder andere Franzose auch den Text von »Les Cornichons«, »Die Gurken«, mitsingen kann? Was hilft es schon, Nina Hagen zu kennen, wenn man nie von Rita Mitsouko gehört hat?
    Um Viertel vor zwölf renne ich in die Küche, um die Jugendherbergsportion Pastasauce aufzuwärmen, die ich gestern vorbereitet habe. Ich setze Wasser auf und rühre in zwei extra für diese Gelegenheit angeschafften Schalen Vinaigrette für den Salat an. Als die Erntehelfer in Grüppchen von den Weinfeldern zurückkehren, stelle ich gerade die letzten Teller auf den Tisch. Sie setzen sich erstaunt und beginnen herumzualbern: »Sie wollen uns also bei sich am Tisch haben?«, fragt Géraldine. »Und Sie haben für uns alle gekocht?« Sie schaut mich an, als sei ich verrückt, und öffnet lachend eine der Weinflaschen.
    Ich beginne an meinem Vorhaben zu zweifeln – ich möchte, dass sie mich sympathisch finden, nicht lächerlich. Aad setzt sich neben mich an den Tisch. »Was macht es schon, wenn das in Frankreich nicht üblich ist«, sagt er, während er sich eine große Portion Pasta auf seinen Teller packt, »hier ist so einiges anders. Wir zum Beispiel.«
    Â»Ich bin gestern nach der Ernte noch kurz in meinen Garten gegangen«, sagt Frédéric, als er am nächsten Morgen auf dem Grundstück erscheint. Wie um seine Großzügigkeit zu unterstreichen, zieht er ein rotkariertes Geschirrtuch von einer Schale, die er mitgebracht hat. » Et voilà! Die Zucchini und die Auberginen waren genau richtig. Ich habe heute Morgen eine leckere Ratatouille für uns gemacht!«
    Stéphanie beobachtet lachend meine Reaktion. »Und ich eine große Tarte Tatin!«, sagt sie und präsentiert uns ihren Apfelkuchen. Es ist der Startschuss zu einem kulinarischen Marathon, der die ganze Ernte begleiten wird.

8
    Nachdem Siebe zum Teil mit Aads Unterstützung die Trauben für den Weißen und den Rosé verarbeitet hat, ohne dass ich viel davon mitbekommen hätte, ist es jetzt bald so weit für die roten Trauben.
    An den ersten Kisten zeigt sich bereits, dass sich das Schimmelfest auch hier fortsetzen wird. Ich lasse Céline ihre Mutter mitbringen, damit sie uns am Sortiertisch unterstützt, und suche auf Siebes Wunsch noch ein paar zusätzliche Leute für die Weinfelder. Und so stößt auch Conchuita zu uns, Rufname Conchy. Sie ist die 50-jährige Oma eines Mädchens aus Fienes Klasse, eine kleine bewegliche Frau mit kurzem blondiertem Haar, die sich mit einem einzigen Wort beschreiben lässt: España! Denn auch wenn Conchuita schon seit beinahe 30 Jahren hier lebt, ist und bleibt sie eine Verbannte. » España, ma pauvre , ach! Alles ist besser in Spanien! Die Menschen sind netter! Die Kinder besser erzogen! Es ist so viel schöner dort!«
    Und bei all ihrem Gejammer ist Conchuita nicht bewusst, dass sie jemanden vor sich hat, der sich – nachdem er sehr lange darüber nachgedacht hat, von allen Ländern auf

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