Traeume ernten
zurückkehren. Und sofort wird mir klar, warum ich nicht schon eher ins Flugzeug gestiegen bin: Genau wie ein Alkoholiker, der es gerade geschafft hat, trocken zu werden, habe ich unglaubliche Angst, mein altes Leben wieder zu schmecken. Angenommen, es gefällt mir? Glücklicherweise ist das Wetter in den Niederlanden ziemlich schlecht, und wir stehen ausreichend lange im Stau. Wie eine Trophäe reiche ich überall die bunten Bilder von der Ernte herum. »Wie schön ihr es dort habt!«, rufen alle. »Ja, nicht wahr«, sagen Aad und ich. Mit dem weiten Abstand zu Staub und Lärm ist das Haus plötzlich kein Problem mehr, sondern eine Herausforderung. Nur noch kurz durchhalten, und es wird wunderschön werden.
Meine Mutter Simone hat uns herrliche Betten hergerichtet, Pantoffeln und Morgenmantel liegen bereit, alles ist sauber und weich. Es kommt mir vor, als würde ich das alles zum ersten Mal sehen. Also bleibe ich schrecklich lange im Bad und geselle mich dann wie neugeboren zu den anderen an den Tisch, auf dem in den groÃen Kerzenständern von Henk sicher 30 kleine Kerzen brennen.
Am nächsten Tag besuchen wir Rex und Anneke. Wunderbar, so ein Haus, in dem alles an seinem Platz ist, wo die Dinge sich nicht ständig verändern: der Tisch mit den Karaffen, die immer mit schottischem Whisky gefüllt sind, der antike Schrank mit der Stereoanlage, die dort schon 20 Jahre steht, direkt daneben die Kassettensammlung und die Filmkomödie »The Singing Detective«. Wir essen Raclette aus kleinen Pfännchen, Michiel und Aad machen um die Wette dumme Witze und Slapsticks zu den Weihnachtsgeschenken von Tante Carla (Was man alles mit einem Rückenkratzer aus Bambus anfangen kann!). Erstaunlich, wie fröhlich und einfach die Dinge sein können. Noch ein paar Tage bleiben mir, ich besuche Miriam und Annemiek. »Wie geht es dir wirklich?«, fragen sie, »du bist ziemlich alleine dort, oder?«
»Ich mache mir ein wenig Sorgen«, sagt Simone, als sie mich zum Flughafen Schiphol zurückfährt. Ich gehe unbekümmert darüber hinweg und spaziere mit den drei Mädchen durch den Zoll. Aad bleibt noch ein wenig in den Niederlanden.
Auf dem Flugplatz in Toulouse setze ich die Mädchen in den blauen Volvo, und wir durchqueren die weite Landschaft von Faugères, ich singe Lieder mit ihnen, alles ist gut.
Erst im Dorf, als ich über den schmalen Weg nach oben fahre, merke ich auf einmal, wie sich ein schwarzer Schatten auf mich legt: Die Häuser sind grau, die Menschen auf der StraÃe verschlossen. Niemand grüÃt mich, niemand kennt mich, warum bin ich eigentlich hier? Ich fahre am Friedhof vorbei, verlasse das Dorf, die Mädchen streiten sich auf der Rückbank, der Druck, der auf mir lastet, wird schwerer, auch meine Atmung ist jetzt eindeutig zu schnell. Ich sollte anhalten.
Aber dann fahre ich doch den Weg hinauf, durch die groÃen Pfützen auf der Auffahrt, der Platz vor dem Haus ist eine einzige Schlammfläche. Ich ziehe Laartje aus dem Auto, hänge mir eine Tasche über die Schulter und gehe vorsichtig um die Pfützen herum zur Eingangstür. Innen ist es schrecklich kalt, über allem liegt eine dünne Schicht aus feinem Staub, die schlammigen FüÃe der Mädchen hinterlassen Spuren auf den hellen Fliesen.
Als die Mädchen in der Schule sind, putze ich das ganze Haus. Die Bauarbeiter setzen die Abbrucharbeiten fort, und so ist der Staub am Abend wieder zurück. Und dann beginnt es zu frieren. Die kleinen elektrischen Ãfen in der Herberge reichen nicht aus, um die Kälte zu verjagen, die Mädchen weinen, wenn sie sich abends ausziehen müssen. Am nächsten Morgen reiÃen die Arbeiter alle Mauern des Badezimmers ein.
»Stellt euch vor«, erzählt Aad später, als wir mit Freunden zusammensitzen, »da komme ich über diesen dunklen Weg, und in der Ferne sehe ich einen leuchtenden Punkt. Hey, da stand doch mal eine Mauer, denke ich. Was glaubt ihr, was ich sehe, als ich mich weiter nähere: Da sitzt Lidewij, wunderbar ausgeleuchtet auf einer kahlen Fläche auf dem Klo.«
Später fand ich die Geschichte auch lustig, aber in dem Moment war das genau der Tropfen, der das Fass zum Ãberlaufen brachte. »Ich will hier weg«, sagte ich.
In der Nähe von Murviel strömt nun unter einer hohen eisernen Brücke ein wilder Fluss, nichts erinnert mehr an das ruhige Badewasser
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