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Traeume ernten

Traeume ernten

Titel: Traeume ernten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lidewij van Wilgen
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aufgehört, also werfe ich einen Blick hinein – ein völlig neuer Raum ist entstanden. Dank der großen Öffnung in der hinteren Wand ist alles in Licht getaucht. Die Männer betrachten zufrieden ihre Arbeit. Einer von ihnen schenkt sich aus einer Thermoskanne Kaffee in einen Plastikbecher ein und lächelt mir zu. Ich beantworte sein Lächeln und fühle, wie meine Mundwinkel wie ein Gummiband, das man loslässt, in ihre alte Position zurückschnellen. Etwas stimmt hier nicht. Ich schaue mir die Öffnung genauer an – sie ist ziemlich groß, sicher zweieinhalb Meter breit und beinahe genauso hoch. Aber was trägt jetzt die Decke?
    Ich trete durch die Öffnung nach draußen und betrachte die Wand über dem Loch. Vor meinen Augen bildet sich ein kleiner Riss, der sich quälend langsam nach oben erweitert. Kurz beobachte ich die langsame Aufwärtsbewegung mit einer distanzierten Neugier, dann erst dringt zu meinem Gehirn durch, was ich hier sehe.
    Â»Il faut des … Il faut des … des trucs!!« , rufe ich den Männern zu. Sie blicken mich verwundert an. Ich ringe um Worte. Was in Gottes Namen ist das Wort für Stahlträger? Hektisch stelle ich pantomimisch Stahlträger dar, die ich unter die Öffnung stelle. Die Männer lachen. Ich werde wütend. »Pas rire!« , rufe ich. »Venez!« und sogar »Merde!«
    Die Kommandos scheinen ihren Zweck zu erfüllen. Der älteste der Männer tritt zögernd durch die Öffnung nach draußen, blickt in die Richtung, die ich anzeige, und sieht, wie der Riss sich behaglich weiter ausdehnt. Er schreckt zusammen, holt ein Handy aus seiner Gesäßtasche, tippt hastig eine Nummer ein und schreit auf Arabisch in das Gerät. Dann rennt er zum Pick-up, um einen Holzbalken zu holen, den er zusammen mit zwei anderen Männern provisorisch in die Öffnung klemmt. Erst eine Viertelstunde später fährt ihr Chef auf das Grundstück, vier rote Stahlträger liegen auf der Rückbank.
    Â»Voilà les étais« , sagt er.

10
    Â»Mama, Mama, es hat geschneit!«, rufen die Mädchen. Es ist noch dämmrig, aber im fahlen Morgenlicht sieht die Landschaft aus wie auf einem Foto aus dem Wintersportkatalog. Auf einmal wirkt alles heller rund um das Haus – auf den dunklen Pinien liegt eine frische weiße Schicht, die die schwere Düsternis des Ortes allmählich verscheucht. Ich fühle, wie die Leichtigkeit auch von mir Besitz ergreift. »Kommt Mädels, wir ziehen uns an!«, sage ich, »wer will einen Schneemann bauen?« Draußen sehe ich ihre roten Wangen, ihre zerzausten Haare und habe das schmerzliche Gefühl, dass mir etwas entgleitet.
    Â»Was machen Sie denn hier?«, fragt die Lehrerin, als ich mit den Mädchen in Murviel ankomme. »Sie sehen doch, dass Schnee liegt.« »Aber das ist doch nur eine ganz dünne Schicht!«, bemerke ich vorsichtig. Sie schnalzt missbilligend mit der Zunge. »Schnee ist gefährlich. Das weiß doch jeder. Alles macht zu.« Ich nicke, drehe mich um und setze die Mädchen wieder ins Auto. Im Schritttempo fahre ich durch die weiße Landschaft zurück zu dem dunklen Häuschen.
    Die Öfen leisten inzwischen Schwerstarbeit, aber es reicht nicht. Als ich am nächsten Morgen im noch ungeheizten Badezimmer den Wasserhahn öffnen will, stellt sich heraus, dass alle Leitungen eingefroren sind. Ein paar Tage lang waschen wir uns am Durchlauferhitzer in der Küche. Unsere Bewegungen werden langsamer, schließlich sitzen wir nur noch unter unseren Federbetten auf dem Sofa und warten darauf, dass der Tag zu Ende geht.
    Ich bin froh, dass ich aus den Niederlanden einen Stapel Videos mitgenommen habe, tue so, als ob unsere Situation in Murviel lustig und gemütlich sei. An diesem Morgen zwinge ich mich, nach draußen zu gehen. Ich laufe ein wenig durch den Garten, hebe die Abdeckung vom Schwimmbad hoch, bin neugierig, wie dick das Eis inzwischen ist. Im fahlen Licht schaue ich in die weit aufgesperrten Augen einer grau-weißen Katze. Weißer Speichel läuft aus ihrem verkrampften Maul, verschmilzt mit den Blasen im Eis.
    Es beginnt zu tauen. Der Schnee rund ums Haus verwandelt sich in einen gelbbraunen Schlammtümpel, und aus den Bergen hinter dem Garten strömen Bäche gurgelnden Wassers. Alles ist von Feuchtigkeit durchzogen. Als ich morgens aufwache, erstreckt sich eine große Pfütze

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