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Traeume ernten

Traeume ernten

Titel: Traeume ernten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lidewij van Wilgen
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normal? Scheinbar. Mit leichtem Schrecken konstatiere ich, dass sich ein großer Teil des Wortschwalls auf einem Notizblock wiederfindet, der vor ihr liegt. Sie nickt mir freundlich zu.
    Ich starre erneut die Frau an, die vor der Tafel steht und aus deren Mund weiterhin diese eigenartigen Worte sprudeln. Schließlich holt sie einen dicken Stapel Kopien aus ihrer Ledertasche, die sie auf dem Stuhl abgestellt hat, und teilt sie nach links und rechts aus. Gierig reiße ich ihr die Blätter aus den Händen – das werde ich zu Hause in Ruhe durcharbeiten. Alleine. Mit einem Wörterbuch.
    Am nächsten Tag komme ich in meine endgültige Klasse, eine kleinere Gruppe, in der sich ausschließlich zukünftige Winzer befinden. » T’es viti? Bist du Winzer?«, lautet in den ersten Wochen das Erkennungswort am Kaffeeautomaten.
    Vor der Tafel steht jetzt ein Mann in der Uniform des Universitätsdozenten: Cordhose, Mokassins, ordentliches Hemd unter einem Lammwollpullover. Hinter einer runden Metallbrille beobachten zwei dunkelbraune und ziemlich stechende kleine Augen die Klasse. Daniel Domergue!
    Â»Kennst du den denn nicht?«, wird Aad später sagen, »Domergue! Clos Centeilles ! Aus dem Minervois!« Das ist eine Weinlandschaft im Languedoc. Er wird ein dickes niederländisches Weinbuch aufschlagen, in dem tatsächlich ein großes Foto ebendieses Mannes zu sehen ist, eine Ecke jünger, an einem reich gedeckten Tisch mit Aussicht über eine weite Landschaft und eine alte Kapelle im Hintergrund. »Mittagessen auf dem Weingut Clos Centeilles «, steht daneben.
    Jetzt läuft eben dieser Daniel Domergue langsam vor der Tafel auf und ab, während er seinen stechenden Blick über die unsicheren jungen Männer, die vor ihm sitzen, und die deplatzierte Erscheinung, die Lidewij heißt, gleiten lässt. »Gut«, sagt er dann, »stellen Sie sich erst einmal vor. Wir fangen hier rechts an.« Einer nach dem anderen murmeln die jungen Männer den Namen des Dorfes, in dem ihre Familien ein Weingut besitzen. Die Anzahl Hektar. Ob sie einer cave coopérative , Winzergenossenschaft, angehören oder einen eigenen Weinkeller haben, eine cave particulière . Nach den kurzen Antworten der Schüler stellt der Dozent noch weitere Fragen: »Ernten Sie mit der Maschine, mit der Hand, wie werden die Rebstöcke geschnitten?« Alle werden schüchtern beantwortet. Dann bin ich an der Reihe. Obwohl ich erst ein Erntejahr erlebt habe, plappere ich artig über die Techniken, die Siebe auf unserem Weingut angewendet hat: Vendange en vert, ébourgeonnage, vendange manuelle en cassette, table de tri …
    Ich verhalte mich genau wie all die Ausländer, die auch gerne ein Weingut besitzen möchten und von denen ich Jahre später Mails bekommen werde. Sie haben noch keinen einzigen Hektar bearbeitet, aber wissen genau, wie man es machen muss. Die Verärgerung, die ich später selber empfinden werde, spiegelt sich in diesem Moment auf dem Gesicht von Domergue wider. »Ah! Wir haben eine reiche Ausländerin unter uns«, wendet er sich an die ganze Klasse, »jemanden, der sich mal eben ein Weingut zugelegt hat. Der denkt, dass das alles ganz einfach ist.«
    Dann wendet er sich wieder an mich. »Und die ganze Arbeit erledigt wahrscheinlich das Personal?«, spottet er, ohne mir die Chance auf eine Antwort zu geben. Maurice riecht Lunte und lacht: »Reiche Ausländer haben wir auch im Dorf. Sie kaufen normalerweise die schönen Häuser, aber inzwischen haben sie es wohl auch auf die Weingärten abgesehen. Quand même .« Domergue geht nicht darauf ein, sondern wendet sich an den nächsten schweigsamen, politisch korrekten Winzersohn in der fünften Generation.
    Nach der Stunde gehe ich zu ihm. Ich habe ungefähr eine halbe Stunde Zeit gehabt, mir einige sinnvolle französische Sätze bereitzulegen. »Ich würde gerne wissen, warum Sie solch abwertende Dinge über mich sagen«, beginne ich. »Sie kennen mich doch gar nicht.«
    Er schaut mich mit einem Blick an, der von Ungehaltenheit in Ärger und dann in Verwunderung übergeht. Aber eine Antwort erhalte ich nicht. »Ja, richtig, ich bin Niederländerin«, fahre ich also fort, »und ja, ich habe keine Erfahrung. Aber ich bin hier, weil ich ein paar Dinge lernen will, was nicht funktionieren kann, wenn Sie so voller Vorurteile sind.«
    Kurz schaut er

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