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Traeume ernten

Traeume ernten

Titel: Traeume ernten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lidewij van Wilgen
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mich an, sprachlos. Dann erscheint der amüsierte Blick des Charmeurs, den ich jetzt in ihm erkenne, und sehr weit im Hintergrund etwas, das ich als ein wenig Respekt interpretiere.

11
    Sollten Sie Interesse an einer Lektion in Bescheidenheit oder an innerer Einkehr haben, dann ist das hier das Richtige für Sie. Vergessen Sie die teure Reise ins tibetische Kloster. Vergessen Sie das Meditationshaus in Thailand. Und auch einen indianischen Guru brauchen Sie nicht.
    Suchen Sie sich einfach einen Stuhl hinten in einer Klasse, in der etwas unterrichtet wird, von dem Sie keine Ahnung haben – am besten in einer Fremdsprache. Sie werden beobachten, wie all Ihre Selbstverliebtheit, all die scheinbaren Selbstverständlichkeiten dahinschmelzen wie Schnee in der Sonne.
    Ich sitze dort, auf diesem Stuhl, mitten in solch einer Klasse. Mit einem beinahe wissenschaftlichen Interesse verfolge ich die langsamen Bewegungen des kräftig gebauten Mannes, der wie ein dicker alter Kater vor der Tafel auf und ab geht, wobei wir die jungen Vögel sind, die er gleich verschlingen wird. Monsieur Baleste ist groß für einen Franzosen, sein dicker Bauch hängt wie eine Teigrolle über seinem Hosenbund. Seine schnelle und monotone Sprechweise wird ab und zu von einem erregten Intermezzo unterbrochen, in das er sich furchtbar hineinsteigern kann, wobei er aggressiv mit den Armen fuchtelt.
    Ich weiß, dass es Französisch sein muss, was er da spricht, aber alle Worte enden so nachdrücklich auf -ang oder -eng, dass ich noch nicht einmal eine vage Verwandtschaft mit den ordentlichen, vollständigen Sätzen, wie ich sie in meinem Sprachkurs in den Niederlanden gelernt habe, ausmachen kann. Erst nach mehreren endlosen Unterrichtsstunden knacke ich den Code. Theoretisch müsste ich Monsieur Baleste jetzt folgen können, aber da ist noch der Inhalt seiner Worte. Dieser Mann steht nicht wegen seiner didaktischen Fähigkeiten vor der Klasse, er wurde wegen seiner praktischen Erfahrungen eingeladen, hier zu unterrichten.
    Â»Gut, ich stehe also vor einem Fass mit 2000 Hektolitern Inhalt«, beginnt er. »Die Hektik ist groß, weil wir in zwei Wochen alles auf Flaschen ziehen müssen. Aber die malo hat aufgehört. Was also mache ich? Der SO 2 ist in Ordnung, die micro-bulage abgeschlossen. Da ist noch ein wenig Restzucker, aber nicht mehr als vier, fünf Prozent. Also organisiere ich kurzerhand ein System mit umkehrbarer Wärmeleitung …«
    Ein Teil der Winzersöhne nickt zustimmend, ja, Probleme mit der malolaktischen Gärung hatten sie alle schon mal. Meine Kenntnisse in Önologie dagegen beschränken sich darauf, dass ich weiß, dass Wein aus Trauben gemacht wird und, ja, okay, dass sich dabei Traubenzucker in Alkohol umwandelt.
    Ich schaue mich um und sehe, dass einige Leute Löcher in die Luft starren oder Figuren auf ihre bislang unbeschriebenen Blöcke zeichnen. Eine Umfrage am Kaffeeautomaten bestätigt meine Annahme: Sie verstehen alle kein Wort.
    Â»Aber sollten wir ihm das nicht sagen?«, frage ich sie, »wenn es so weitergeht, haben wir bald völlig den Anschluss verloren.« Tja, davor haben sie auch Angst. Aber für echte Franzosen, besonders für die weniger gebildeten, ist es keine Option, Autoritäten zu hinterfragen. Sie wollen nicht dumm erscheinen, vor allem gehört es sich einfach nicht. Das kann die Niederländerin übernehmen.
    Nach der Pause bin ich als Erste in der Klasse und gehe zur Tafel, wo Baleste langsam und aufmerksam ein Formular durchliest. Fehlt nur, dass er den Buchstaben mit dem Finger folgt. Wie er da so sitzt, ohne sich für seine Rolle auf der Bühne des Klassenzimmers aufgebläht zu haben, ist er ein netter, müder, älterer Mann, der wohlwollend lächelt, als er sich aufrichtet. »Ah, Lide, comment allez-vous?«
    Â»Sehr gut, und wie geht es Ihnen?«
    Â»Sehr gut, danke.«
    Â»Prima.«
    Ja, dieses Gespräch beginnt konstruktiv.
    Ich erläutere mein Problem. »Sie setzen Grundkenntnisse in der Önologie voraus, die lange nicht jeder in der Klasse besitzt«, sage ich. »Ich kann Ihrem Unterricht nicht folgen, und ich habe festgestellt, dass das auch für andere Schüler in der Klasse gilt.« Baleste lässt sich seufzend in seinen Stuhl zurücksinken, sein Blick kehrt sich nach innen. Er sagt nichts. Vielleicht muss er meine Bemerkung erst verarbeiten? Oder hofft er, dass

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