Traeume ernten
während die Kellnerin mit dem vierten Amuse-Bouche kommt â kleinen Terrinen aus rosa Gelee und Lutscherstielen mit etwas Klebrigem daran. Laartje und ihr Playmobil kommen mir in den Sinn.
»Worüber hatten wir gerade gesprochen?«, fragt Aad. »Richtig, der neue Produktmanager. Er wollte alles anders machen. Das gesamte Shooting musste wiederholt werden, die Quoten stimmten nicht mehr, der Accountmanager war auÃer sich.« Er spricht über Kunden, Umsatzzahlen, Kollegen, mit denen ich früher auch zusammengearbeitet habe â eine Welt, die für mich längst hinter einem weit entfernten Horizont versunken ist.
Also betrachte ich Aads Hemd, das ich nicht kenne.
Es regnet, tagelang. Der Orb, der durch Béziers flieÃt, tritt über seine Ufer, in Cessenon steht ein Campingplatz bis weit oberhalb des Kiesstrandes unter Wasser. Die dünneren Bäume werden vom schnellströmenden Wasser hinabgebogen, es ist genauso spektakulär wie ein Sturm am Strand der Nordsee. Mir ist, als würde das rauschende Wasser all die Zweifel und all die Schwere der letzten Zeit mit sich forttragen.
»Regen ist gut für die cèpes «, sagt Bruno ernst zu den Mädchen. »Jetzt kann ich noch früher in den Wald gehen. Ha, regarde-moi !« Aus seiner Hosentasche holt er eine Taschenlampe, die er mit Gummibändern auf seinem groÃen, runden Kopf befestigt, um dann mit riesigen Schritten den Tisch zu umrunden, wobei er den Blick konzentriert auf den Schein der Lampe vor sich richtet, bereit, sich auf jeden cèpe zu stürzen, der sich zwischen den Fliesen hervorwagt. Laartje schaut leicht verunsichert von dem herumstapfenden Mann zu ihrer ältesten Schwester hinüber. Ist das noch normal? Aber Marijn lacht freundlich. » Très bien , Bruno«, sagt sie.
Bruno nimmt sich seine letzten Tage Urlaub und steigt jetzt jeden Tag um halb fünf ins Auto. Er schneidet die Pilze in ordentliche Rechtecke, verpackt sie in Plastiktüten und stapelt sie Kilo für Kilo in der Gefriertruhe, die er sich extra für diesen Anlass angeschafft hat. Er verflucht die Polizisten, die stichprobenartig Autos, die aus dem Hinterland kommen, kontrollieren. Pro Tag darf man nicht mehr als fünf Kilo pro Person mitnehmen, lächerlich, findet Bruno. Als die Gefriertruhe voll ist und die Pfannen zum Abendessen vor Pilzen überquellen, wird er groÃzügig â nach seiner Mutter und seiner Schwester bekommt jetzt auch die patronne ihren Vorrat an braunen Würfeln. SchlieÃlich kauft der Gemüsehändler im Dorf Brunos restlichen Vorrat auf â für die Chinesen wird dieses Jahr wenig übrigbleiben.
Die Ferien stehen vor der Tür, und so wird für die Kinder aus dem Dorf in der Aula der Schule die alljährliche Weihnachtsfeier organisiert. Das Schulgebäude stammt aus den Glanzzeiten des Weinbaus. An der hohen Fassade aus hellem Naturstein sind die Büsten französischer Philosophen angebracht â Molière, Diderot, Voltaire, alles zur Erbauung der ahnungslosen Dorfjugend.
Vor dem Eingang steht eine gröÃere Gruppe Frauen, die sich unterhalten, die meisten von ihnen mit der Zigarette in der Hand. Als ich mit den Mädchen die Treppe hinaufgehe, macht die Gruppe Platz. Mehrere Frauen beugen sich zu einem BegrüÃungskuss zu mir herüber. Marijn und Fiene schauen zufrieden zu, die einträchtigen Mütter von Murviel, so muss es sein.
Es ist unglaublich heià im Saal, wo sich ganze Familien samt GroÃeltern drängen und Stühle rücken, weil alle zusammensitzen möchten. Die Väter kommen direkt vom Feld und senden in ihren wattierten Jacken entsprechende Gerüche aus. Der eine oder andere spricht mich an: »Ãa avance, la taille?« Ja, mit dem Rebschnitt geht es gut voran. Wir sprechen über das Wetter, darüber, ob man pflügen oder nicht pflügen sollte. Ich bin zufrieden, genieÃe diese angenehmen alltäglichen Gespräche. Kurz denke ich an Aad â er hat keinen einzigen dieser Menschen je kennengelernt.
Ich setze mich mit den Mädchen nach vorne, wir brauchen drei Stühle, Laartje sitzt auf meinem SchoÃ.
Eine ältere, gestresst wirkende Frau steigt auf die Bühne. Es ist eine der Lehrerinnen an der Schule, die sicher dabei geholfen hat, den dürren Weihnachtsbaum in der Ecke zu dekorieren und die beiden roten Girlanden hineinzuhängen, die sich anstrengen müssen, um dort
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