Träume in Kristall
Tsurukos Sandalen, ihre eigenen in jeder Hand eine, die Kusine, die Tsurukos Tabi-Söckchen trug, Tsuruko selber barfuß, den Kimonosaum hochgeraf: als sie in diesem Aufzug in das Haus der Tante zurückkehrten, gab es darüber, für die Kinder unerwartet, ein fröhliches Gelächter; aber der Vater zog Tsurukos Kopf hefig an sich, fuhr ihr mit der Hand über das wirre, verklebte Haar und sagte: »Du bist mir ein rechter Wildfang, hast dich tapfer gehalten.« Tsuruko hatte das unbestimmte Gefühl eines Triumphs. Tatsächlich war sie zum erstenmal mehr gelobt worden als die Schwester.
Und wenn die verschüttete Erinnerung jetzt durch Imamuras Bemerkung wieder lebendig wurde, so vielleicht gerade deshalb, weil sie damals in ihrem kindlichen Herzen gespürt hatte: dies war zum erstenmal geschehen.
Tsuruko vergaß die nächtliche Kälte, ein heiteres Lächeln stieg in ihr auf.
Die Strömung jenes Flusses war hefig gewesen. Ob er flach war oder tief, das hatte sie – es war ja in der Stadt, in der die Familie der Tante wohnte – nicht gewußt. Ganz abgesehen davon, daß sie ein kleines Mädchen von vier oder fünf gewesen war. Und Herbst war es gewesen. Sie hatte den langärmeligen KreppKimono angehabt. Nie wäre sie auf den Gedanken gekommen, in den Fluß zu gehen. Daß sie dann trotzdem mit vielem Gespritze hineingelaufen war – »Ich habe eben auch gute Seiten. Bin so ein Kind gewesen.« Tsuruko mußte lachen. »Und habe ihr sogar meine Koppori gegeben, – das war doch was!«
Möglich, daß sie das getan hatte aus einem Gefühl der Unterwürfigkeit gegenüber der älteren Schwester. Möglich aber auch, daß das Mitleid mit der Schwester, mit einem schwachen Menschen, sie dazu bewegt hatte.
Und wirklich, es schien ihr, als wäre es häufig so gewesen, daß die beim Spielen furchtbar ungeschickte Schwester zwar nicht von der Gruppe ausgeschlossen worden war, dafür aber sich selbst unvermerkt abgesondert und gedankenverloren zugeschaut hatte. »Wer weiß, vielleicht war sie im Grunde immer schon ein todkranker Mensch.«
Mag sein, dachte Tsuruko, daß die gleiche Energie wie damals, als ich in den Fluß hineinlief, mich auch befähigt hat, überhaupt nach Tōkyō aufzubrechen. »Da hat mich Imamura aber wirklich auf die richtige Fährte gesetzt, als er sagte, es wäre nicht wahr, daß ich mich meiner Schwester gegenüber nicht ein einziges Mal überlegen gefühlt hätte.«
Plötzlich schob Tsuruko die Bettdecke fort, und als wollte sie sich auf dem Lager nebenan ausstrecken, rüttelte sie Sakiko wach. Sowie sie die Augen aufschlug, setzte sich Sakiko kerzengerade auf, stammelte verdutzt: »Was … was ist denn …?« Und starrte Tsuruko an; streckte dann aber die rechte Hand aus und legte sie auf Tsurukos Knie: »Hör mal, da ist etwas, das muß ich dir sagen.«
Augenblicklich überlief es Tsuruko kalt: ging es etwa um den Spaziergang mit Imamura auf dem Rückweg von der Bibliothek? Doch Sakiko schüttelte noch einmal Tsurukos steif gewordenes Knie und sagte mit weicher Stimme: »Ich schäme mich, – wenn du mich so ansiehst …« Dabei wirkte Sakiko, weil sie um die Augenlider errötet war, nur um so kindlicher. Intuitiv begriff Tsuruko: diese so jungmädchenhafte Sakiko wird Mutter werden; und auf einmal begann etwas Warmes in ihrer Brust aufzuschießen, und sie packte Sakiko bei den Schultern: »Wäre das schön, würde ich mich freuen!«
»Ah, wie lieb von dir«, sagte Sakiko, während sie ihr Gesicht in Tsurukos Schoß begrub.
»Weißt du, ich hatte es dir längst sagen wollen, dachte: du mußt es ihr sagen, unbedingt; aber dann, ich verstehe mich selber nicht, brachte ich es doch nicht fertig. Wenn du es wüßtest, würde ich mich beim Herumtollen mit dir, bei jedem Wort mit dir befangen fühlen. Und das war es, was ich nicht wollte. Entschuldige bitte.«
»Wäre das schön!« hatte Tsuruko gesagt, und dabei war ihr auf einmal eine einzelne Träne über die Wange gerollt; nun fiel sie, und war nicht aufzuhalten, als ein schwerer Tropfen in ihren Schoß. Auch Sakikos Augen füllten sich mit Tränen.
Wenn sie sich Imamura und Sakiko vorzustellen versuchte, wie sie, Vater und Mutter geworden, das Kind zwischen sich nähmen, schien ihr das der schönste und völlig natürliche Zustand. Schloß sie dann, um sich diesen Zustand noch deutlicher auszumalen, die Augen, so empfand sie einen Schwindel. Nach jener Nacht, die sie im Hause Sakikos geblieben war, fragte sich Tsuruko, ob sie sich nicht doch
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